Fesseln des Schicksals (German Edition)
die ihm unlösbar schienen. Da trat Scott, der den Vormittag am Ufer des Severn River verbracht hatte, in ihr gemeinsames Zimmer.
«Und Arnold und der Quadratkopf?», fragte er abfällig, als er die Bücherstapel seiner Kommilitonen auf einer Seite des Tisches liegen sah.
«Sie sind ein Bier trinken gegangen. Sie brauchten eine Pause.»
«Lernst du?»
«Ja», antwortete Richard scharf. «Und dir würde es auch nicht schlecht bekommen, ein bisschen zu lernen. Ich nehme an, du weißt, dass du rausfliegst, wenn du die Prüfung morgen nicht bestehst.»
«Ich weiß. Aber leider Gottes werde ich wohl bestehen.»
Scotts Sarkasmus ging Richard auf die Nerven. Mit konzentriert gerunzelter Stirn steckte er die Nase wieder in sein Buch. Die Aufgabe, die der Kommandant in der letzten Stunde gestellt hatte, machte ihm zu schaffen. Er fand die Lösung nicht und hatte keine Lust, seine Zeit mit sinnlosem Geschwätz zu vergeuden.
Aber Scott langweilte sich. Er hatte den Tag damit verbracht, in der Gegend herumzuschlendern, und vermisste die Gesellschaft eines anderen Menschen. Und ob es ihm nun passte oder nicht, Richard Reemick war der einzige Student an der Akademie, der höflich genug war, ihn nicht zum Teufel zu jagen. Scott blickte Richard über die Schulter und holte einen Apfel aus der Innentasche seiner Jacke, den er dort hatte verstecken können.
«Scott, du weißt genau, dass es verboten ist, in den Zimmern zu essen.»
Ohne Richards Bemerkung Beachtung zu schenken, biss Scott in den Apfel.
«Probleme, hm?»
Richard schob seine Aufzeichnungen zur Seite. Es machte ihn nervös, dass jemand hinter ihm stand und kaute. «Hast du nichts Besseres zu tun?», platzte er heraus.
«Eigentlich nicht», antwortete Scott, amüsiert darüber, dass auch dieser perfekte Gentleman einmal die Kontrolle verlor.
«Da du nicht die Absicht hast zu lernen, könntest du mich wenigstens in Ruhe lassen, damit ich mich auf die Prüfung vorbereiten kann. Mach einen Spaziergang. Es ist ein schöner Tag.»
«Ich möchte lieber hierbleiben. Draußen ist es zu heiß.»
Schon vor geraumer Zeit war Richard zu dem Schluss gekommen, dass der Yankee vor absolut gar nichts Respekt hatte. Er gefiel ihm nicht. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der weniger Talent für alles Militärische besaß und der im Unterricht derart unaufmerksam war. Eigentlich konnte er sich nicht erklären, wie er es geschafft hatte, überhaupt durchzukommen. Aber durch irgendeinen mysteriösen Zufall bekam Scott am Ende immer die notwendige Punktzahl, um zu bestehen und damit zu verhindern, dass er aus der Akademie hinausgeworfen wurde.
«O’Flanagan, ich verstehe nicht, was du hier eigentlich willst.»
Scott ließ sich in seiner ganzen Länge auf das Bett fallen.
«Ausruhen.»
«Ich meine, auf der Akademie», erklärte Richard entnervt.
«Man könnte sagen, dass ich einen Vertrag erfülle.»
Die Lustlosigkeit und die fehlende Ernsthaftigkeit, mit der Scott O’Flanagan über die Einrichtung sprach, waren für Richard eine Beleidigung. Für ihn repräsentierte die Marineakademie ein wichtiges Gut, einen Ehrenkodex, den er zur Leitlinie seines Lebens machen wollte.
«Spürst du denn nicht, was es bedeutet, an diesen Ort zu gehören?»
Scott betrachtete seinen Apfel, der von einer glänzenden Wachsschicht umhüllt zu sein schien. Dann sah er Richard direkt an. Dieser hatte noch nie so tief in Scotts dunkle Augen gesehen. Fast war er überrascht, mit welcher Heftigkeit Scott seinen Blick erwiderte.
«Du irrst dich, Richard. Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, was dieser Ort bedeutet. Für dich Ehre, die Verpflichtung, deine Familie nicht zu enttäuschen, vielleicht Ruhm. Was auch immer das sein mag. Für mich ist es die einzige Möglichkeit, mir den Traum zu erfüllen, nach Harvard zu gehen. Es ist die Strafe für meine Auflehnung. Ich weiß sehr gut, was das bedeutet. Meine Familie hat über Generationen zu Orten wie diesem gehört, und der Ehrenkodex, den du so bewunderst, besteht aus nichts als Lügen. Lügen, um die wahren Beweggründe zu verbergen, deretwegen die Menschen Kriege führen. Die haben nämlich nichts mit Ehre zu tun, sondern mit dem unstillbaren Wunsch nach Macht. Und diese Lügen haben dazu geführt, dass einer der Menschen, die ich am meisten geliebt und respektiert habe, zu Tode gekommen ist.»
Scott sprach mit solcher Leidenschaft, dass Richard nicht wusste, was er erwidern sollte. Vielleicht war dieser geliebte Mensch, den
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