Fesselnde Entscheidung (German Edition)
konnte nicht mehr weinen. Als wenn jeder Mensch nur ein gewisses Kontingent zur Verfügung hatte, ihr Repertoire an Tränen war erschöpft.
Sie dachte an das Projekt. Vielleicht war das hier die Strafe dafür, dass sie nicht hartnäckig genug interveniert hatte, überlegte sie. Der Termin hätte nie anberaumt, geschweige denn zustande kommen dürfen. Allein der Gedanke an das, was ihr Vater vorhatte, war Raubbau an dem Vermächtnis ihrer Mutter.
Sie hatte damals den Kontakt zu dem afrikanischen Dorf in Swasiland hergestellt, dem Land mit der weltweit höchsten AIDS-Rate. Sie hatte helfen wollen, retten, alles tun, was in ihrer Macht gestanden hatte, absolut uneigennützig. Ihr Vater wollte auch helfen, aber anders – aus reiner Profitgier.
PharmaSchulte war es nach langen, äußerst kostspieligen Forschungsreihen gelungen, zwei besonders wirksame Antikörper für einen möglichen Impfstoff gegen AIDS zu isolieren. Das allein war schon ein riesiger Meilenstein, in Fachkreisen war sogar vom größten Durchbruch seit dem 1. Dezember 1981, dem offiziellen Bestehen der Krankheit, die Rede.
Tatsächlich aber blieben die gewünschten Immunreaktionen mit Impfstoffproben und damit die Bildung der erforderlichen Antikörper in den klinischen Versuchen aus. Diese Tests waren teuer, sehr teuer und die Aussagekraft bei einer Übertragung auf den menschlichen Körper im Verhältnis dazu sehr gering.
Voller Verachtung dachte Elisa an ihren Vater. Besser waren da natürlich Experimente am menschlichen Objekt. Ihr Vater wollte unbedingt der Erste sein, dem es glücken würde, einen wirksamen Impfstoff gegen das HI-Virus zu entwickeln.
Da war ihm eines Tages die glorreiche Idee gekommen, den Gedanken seiner Frau aufzugreifen und ihn nur ein bisschen umzudrehen. Statt Nachsorge zu betreiben, zielte er auf die Vorsorge ab. Er war nach Afrika gereist, war auf offene Ohren gestoßen und hatte vor, gegen geringes Geld, sogenannten Spenden, so viel an unwissenden afrikanischen Kindern zu testen, wie es nötig war, um endlich das Lebenselixier schlechthin in den Händen zu halten: einen Impfstoff gegen AIDS.
Die lebensbedrohlichen Komplikationen und Nebenwirkungen waren ihm zwar nicht egal, aber er wollte sie billigend in Kauf nehmen, nur die Presse sollte besser nichts davon erfahren.
Elisa stellte sich vor, wie die kleinen Kinder mit ihren großen Kulleraugen tapfer die Spritze ertrugen und sich freuten, ein wertvolles Vitaminpräparat aus dem guten Deutschland zu erhalten. Bereitwillig würden sie sich immer wieder Blut abnehmen lassen, um überprüfen zu lassen, ob ihr Körper genügend Vitamine und Mineralien angereichert hatte. Nicht verstehen würden sie, warum es ihnen statt besser immer schlechter gehen würde, sie plötzlich Fieber bekommen und schließlich ihre gesamten kleinen Organe versagen würden. Und auch wenn sich diese Fälle häufen würden, es würde niemand nach dem Warum fragen.
Ein heftiger kurzer Schüttelfrost überkam Elisa. Sie schwor sich bei allem was ihr heilig war, das Projekt mit allen erforderlichen Mitteln zu verhindern – sofern sie hier irgendwie lebend heraus kommen würde.
16. Kapitel - Mittwoch, 10.09.
»WIE BITTE?«, schrie Schulte. Er schlug so fest mit der Faust auf den Schreibtisch, dass die Glasvitrine in der Mitte des Raumes erzitterte und die Gläser darin klirrten.
Frau Seibel hatte ihm gerade erklärt, dass sie den braunen Umschlag gestern Abend auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, nachdem Herr Krüger sie gebeten hatte, ihn unten am Empfang abzuholen. Ein Kurierdienst habe ihn mit dem Hinweis, ihn ungeöffnet und absolut vertraulich Herrn Schulte zukommen zu lassen, abgegeben. Sie war der Meinung gewesen, dass es sich um sehr geheime Dokumente aus dem Projekt handelte und hatte sich daher strikt an die Anweisung gehalten.
Warum um alles in der Welt hatte Krüger ihm diese wichtige Mitteilung vorenthalten? Schulte war sprachlos, ein böser Verdacht stieg in ihm auf. Händeringend überlegte er, ob er gleich die Polizei zu Krüger schicken solle oder welcher nächste Schritt am Sinnvollsten sei.
Schulte wies Frau Seibel an, sofort Löser zu ihm zu schicken und versuchte dann Oskar mit dem MP3-Handy zu erreichen, als Frau Seibel sichtlich aufgelöst sein Büro verlassen hatte. Aber Oskar ging nicht ran. Nachdem auch keine Mailbox ansprang, warf Schulte das Handy entnervt auf seinen Schreibtisch und fasste sich an die Stirn. Er schwitzte und bekam wieder schlecht Luft.
Löser
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