Fest der Fliegen
beeindruckte Swoboda. »Nur hier haben sie ein Schild vergessen: Vorsicht, Zimmerboden fällt nach Westen stark ab.« Nein, sie würden sich diese erste gemeinsame Reise nicht verderben lassen. Nicht von abgewetzten, weichen Teppichen und der Vorstellung, was darin und darunter noch alles wohnte, nicht von schrägen Böden und schiefen Treppen, auch nicht von den Fliegen im Frühstückszimmer und nicht vom Kaffee, von dem Martina meinte, es handele sich um den dritten Aufguss. Sie hatten sich vorgenommen, glückliche Tage zu verleben, und es gelang ihnen. Das Bett, das seine Insassen zur Wand rollen ließ, erwies sich als verbindend, und der Frühsommer am Firth of Forth ließ die Tage glänzen. Swobodas Gemüt hellte sich auf, was Martina häufiger lächeln ließ, und unter ihrem Lächeln wiederum konnte ihr Begleiter allmählich sein Gedächtnis mit weniger Argwohn beobachten, schließlich sogar aus der überscharfen Aufmerksamkeit der letzten Wochen entlassen. Nach einem kurzen Blick in den Saal, der sich als Restaurant des Hotels empfahl, hatten sie sich am ersten Abend entschieden, in der Stadt ein Lokal zu suchen. Sie waren auf gut Glück vor der Tür nach links bis zum Waterloo Place gelaufen, dann rechts abgebogen zur Northbridge. Die Fürsorglichkeit Fremden gegenüber setzte sich hier fort: Die Bürgersteigkante forderte mit großen weißen Lettern LOOK RIGHT, die Insel in der Straßenmitte LOOK LEFT . Auf der Brücke kamen sie an zwei jungen Männern vorüber, die in zärtlicher Hingabe füreinander an der Steinbrüstung lehnten, und an einem gleichfalls jungen, stark schwankenden Bettler, der den Plastikbecher für die erwarteten Münzen in derart ausschweifenden Serpentinen durch die Luft bewegte, dass man ihm beim besten Willen nichts hineinwerfen konnte. Ohne Stadtplan und ohne jemanden zu fragen, waren sie zur High Street gelangt, die auf dem Straßenschild als Untertitel ihren zweiten Namen Royal Mile trug. An der Ecke fanden sie ein italienisches Restaurant, in dessen Eingangsbereich aber mehr als zehn Personen darauf warteten, einen Tisch zugeteilt zu bekommen. Sie bogen in die Royal Mile ein, liefen, ohne das an diesem Abend schon zu wissen, in Richtung von Edinburgh Castle mit dem dort eingerichteten schottischen Kriegsmuseum und fanden nach wenigen Minuten eine weitere italienische Gaststätte, im Souterrain gelegen, wo man ihnen sofort einen Tisch anwies. Das Lokal bestand aus einem Korridor, an dessen einer Längsseite die Tische mit gegenüberliegenden Bänken angeordnet waren. An der anderen Wand erstreckte sich die offene Küchenzeile, hinter deren Theke zwei durchaus schottisch aussehende Köche, die Luigi und Carlo gerufen wurden, im Schweiße ihres Angesichts die Speisen zubereiteten. Am Ende des Korridors ließ der Lärm, der von dort kam, einen größeren Gastraum vermuten, der offenbar von einer feiernden Gesellschaft belegt war, weshalb die anderen Gäste vorn gegenüber der Küchentheke Platz nehmen mussten. Die Spaghetti Vongole waren überraschend gut, die Muscheln darin frische Clams von der schottischen Küste, Knoblauch, Petersilie und Pfeffer reichlich. Auch der Wein ließ sich trinken, der in der Speisekarte als Pinot Grigio aus Sardinien firmierte und vielleicht auch einer war. Es ging ihnen gut. Die Preise kamen ihnen zivil vor, das englische Pfund war fast auf Parität mit dem Euro gestürzt. Die Gruppe im Hinterzimmer brach auf und trampelte durch das Lokal zum Ausgang. Unangenehme Menschen.
Jung, fett, kurz geschoren, in langen, dunklen Mänteln und mit Schnürstiefeln an den Füßen. Nach Kaffee und Grappa ließ Martina sich den Weg zur Toilette zeigen und Swoboda war nicht der Einzige im Lokal, der ihr genießerisch nachblickte. Jeder hier konnte sehen, dass sie zu jung für ihn war oder er zu alt für sie. Nicht wegen ihrer langen, blonden Haare fiel sie auf. Es war ihr Gang, die Schwingung, die ihre Gestalt von Kopf bis Fuß beherrschte und ihr anscheinend nicht bewusst war. Swoboda hatte sie lange nicht so angesehen, und als sie zurückkam, musste etwas in seinem Gesicht sie verblüfft haben. Denn sie neigte sich ihm zu und fragte leise: »Kann es sein, dass du mich liebst?« »Ich möchte dich malen, wie du durchs Restaurant gehst.« Auf ihrem Rückweg kamen sie, bevor sie die Brücke betraten, linker Hand an einem Geschäft für Künstlerbedarf vorbei, das sie zuvor nicht bemerkt hatten. Swoboda blieb stehen und starrte sehnsüchtig wie ein Kind auf die
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