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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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hatte Swoboda sich mit der Geschichte der Camera Obscura als Hilfsmittel der Maler seit der Renaissance beschäftigt, und als Martina ihm aus dem Reiseführer von dem Museum vorgelesen hatte, schien ihre Wahl des Urlaubsortes kein Zufall mehr zu sein.
    Es war Mittag. Sie hatten die zehn Treppen erstiegen, unter der Kuppel des Turms aber feststellen müssen, dass wegen einer kurzfristigen Reparatur die Vorführung erst in einer halben Stunde beginnen werde. Sie liefen wieder nach unten, sahen sich die Zeichnungen M.C. Eschers und seiner Epigonen an, ließen sich ihre Gesichter von Spiegeln bis zur Unkenntlichkeit verzerren, lachten über das holografische Gruselkabinett und umarmten sich vor einer Infrarotkamera, die ihre Hitzezonen aufzeichnete und als rotgrüne Landkartengestalt an die Wand projizierte. Aber Swobodas Gedanken waren in dem dunklen Raum unterm Dach. Etwas zog ihn ab von den optischen Sensationen, er fühlte sich von ihnen belästigt und aufgehalten, und als Martina ihm in einem digitalen Verunstaltungsprogramm als alte Äffin entgegentrat, schlug er ungeduldig gegen den Bildschirm, der unter dem Schlag nachzitterte. Martina erschrak. »Lass uns nach oben gehen«, sagte sie, »und auf die Stadt schauen.« »Ja. Luft und Ferne. Ferne und Luft. Hier erstickt man.« Sie sah ihn prüfend an und er meinte in ihrem Blick eine Veränderung zu erkennen: Ihre Liebe verwandelte sich in Fürsorge. Irgendwann kommt der Morgen, dachte er, an dem ich sie als Geliebte vergesse und als Krankenschwester akzeptieren muss … Sie streckte die Hand nach ihm aus: »Komm. Die Vorführung beginnt gleich.« Sie stiegen wieder hinauf unter die Kuppel, wo an den Stufen vor der Tür zum Raum der Camera Obscura zwei Menschen warteten, eine kleine Dame, gewiss über sechzig, mit verwegen vor der Stirn in schräger Linie abgeschnittenem Haar, eine auffällige Frisur, die nicht zu ihrer zurückhaltenden Ausstrahlung passte. Und ein kaum größerer, dicklicher, kahlköpfiger Mann mit Ringen unter den Augen und einem olivbraunen Teint. Die Dame trug ein Reisekomplet aus beigem Strickstoff und in der Hand einen Stadtrucksack in derselben Farbe. Der Mann, dessen Gesicht und Glatze nass glänzten, hatte keine Tasche bei sich. Seine Jeans schienen neu zu sein, sein kirschrotes Hemd wölbte sich gut gefüllt über den Hosengürtel. Die Dame blickte zu Boden. Der Mann sah Swoboda an und lächelte unsicher. Der Vorführer öffnete von innen die Tür: Ein Mann in bunt kariertem T-Shirt und hautengen schwarzen Hosen. Der lange Pferdeschwanz im Nacken ließ vermuten, dass er jünger war, als sein grau meliertes Haar und sein weißer Oberlippenbart signalisierten. Er bat, die Stufen heraufzukommen und beim Eintreten durch die niedrige Tür auf den Kopf zu achten. Man wisse zwar noch nicht, ob alles funktioniere, sein Kollege sei noch oben auf dem Dach, doch das kleine technische Problem, ein »mirror block«, sei sicher gleich behoben. Die Rotunde war rot erleuchtet wie die Dunkelkammer eines Fotografen, der weiß lackierte Tisch in ihrer Mitte schien zu glimmen. Sachlich beschrieb der Vorführer, der sich als Gavin vorstellte, das Funktionsprinzip: Auf der Mitte des Kuppeldaches war ein um 360 Grad drehbarer, kleiner Spiegel angebracht, der mittels einer Steuerungsstange vom Turminneren aus per Hand im Kreis bewegt und gekippt werden konnte. Der Spiegel, der von einer einfachen Glasscheibe geschützt war, lenkte das auf ihn fallende Lichtbild der Umgebung in einen engen Zylinder, aus dem es ins Innere des Turms fiel. Dieser Zylinder entsprach in seiner Funktion dem Loch für den Lichteinfall in einer üblichen Camera Obscura. Wegen der großen Entfernung zwischen Projektionstisch und Zylinder, fast neun Meter, wurde das Licht durch drei Linsen gebündelt, bevor es auf den weißen Tisch in der Mitte fiel. Dessen Oberfläche war konkav geschliffen, um die Linsenverzerrung auszugleichen. Die Projektion löste sich an den Rändern des Tisches in eine leichte Unschärfe auf. Gavin spulte seinen Text herunter: Dass seit der Errichtung durch die Optikerin und Instrumentenbauerin Maria Theresa Short in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Faszination des Tisches unvermindert angehalten habe. Zwar waren seinerzeit manche Damen angesichts des unbegreiflich bewegten und farbigen, wenngleich lautlosen Abbildes der Außenwelt in Ohnmacht gesunken, und die Adresse des Turms, 549 Castle Hill, galt einigen in der Stadt als Hexenort. Doch 1895 wurde daraus unter

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