Fetjaine, Jean-Louis - Die Elfen 02
erzählten jedem, der es hören wollte, dass die aufständischen Barone und die Elfen eine einzige Armee bildeten, die so riesig sei, dass sie den Horizont verdunkeln würde an dem Tag, da sie auf die Stadt marschierte.
Das waren natürlich nur Gerüchte, doch niemand konnte sich ihnen entziehen, nicht einmal der Regent Gorlois. Da man allerdings immer noch nichts herannahen sah, weder eine Flut von Elfen noch einen Wald aus Lanzen, glaubte die Bevölkerung von Logres schließlich doch daran, dass die sommerlichen Gefechte genügt hatten, um den Feind in Schach zu halten.
Das Volk glaubte es, nicht aber Gorlois.
Trotz seines schweren Bärenfellmantels durchnässt bis auf die Knochen, eilte der Regent mit großen Schritten den Wehrgang entlang und ballte die Fäuste, eine Geste, die ihm schon zur zwanghaften Gewohnheit geworden war. Binnen eines Jahres war seine Gestalt deutlich gebeugter geworden als in zehn Jahren Schlacht. Sein graues Haar wurde jetzt weiß, und er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der ihn noch zusätzlich alt erscheinen ließ. Unvermittelt beugte er sich über eine Zinne und brüllte einen Befehl, der sich im Plätschern des Regens verlor. Auf der anderen Seite des Grabens, der Loth umgab, arbeitete ein Heer von Tagelöhnern langsam, ja zu langsam an den äußeren Festungsmauern.
»Messire Emeric!«
Einen Steinwurf entfernt, im Schutz des Portalvorbaus an einem der zehn viereckigen Türme, die rund um die Stadt aufragten, erhob sich murrend ein Hüne in einem weißgrundigen, mit einem roten Kreuz versehenen Waffenrock, zog sich die Kapuze seines langen scharlachroten Umhangs über den Kopf, um sich gegen den strömenden Regen zu schützen, und trabte gemächlich zu seinem Herrn hinüber.
»Diese Männer«, sagte Gorlois in abgehacktem, Furcht erregendem Ton. »Diese Männer arbeiten nicht! Lauf hinüber!«
»Herr, es schüttet«, seufzte der Ritter. »Der Mörtel löst sich auf bei der Nässe ... Es hat keinen Sinn.«
Gorlois starrte ihn mit unbändigem Zorn an. Emeric wandte den Blick ab und senkte den Kopf.
»Ich gehe schon, Herr ...«
Er gab Fersengeld und rannte in den Schutz des Turms zurück. Es würde genügen, eine Wache zu schicken, die seinen Umhang anziehen könnte, für den Fall, dass Gorlois nachprüfen sollte, ob sein Befehl ausgeführt war (man lernte rasch, vorsichtig zu sein bei den Befehlen des Regenten), und er könnte sich den Rest des Nachmittags in den Küchenräumen herumtreiben ... Wozu sollte er sich bis auf die Knochen durchweichen lassen für diesen Verrückten und seine Befestigungsanlagen, die von seiner himmelschreienden Feigheit zeugten ...
Gorlois’ ganzer Leib wurde von unkontrollierbaren Zuckungen geschüttelt, während er dem davoneilenden Mann nachsah. Er musste wieder nach Hause zurück. Wenn er weiter bei diesem elenden Wetter draußen blieb, holte er sich am Ende noch den Tod. Und die Königin erwartete ihn vermutlich. Ja, sie wartete bei ihrer Tochter Morgause ...
So schnell er konnte, hastete er mit großen Schritten zum Turm hinüber und stürzte dann so rasch die Treppe hinauf, dass die Wachen seiner Eskorte mehrere Minuten brauchten, um ihn einzuholen. Schlotternd vor Kälte, bei jedem Schritt eine Pfütze hinter sich zurücklassend, rannte er beinahe schon durch die Gänge, stieß unterwegs die Leichtsinnigen oder Zerstreuten, die nicht rechtzeitig auswichen, grob zur Seite und drang immer weiter in das Labyrinth schmaler Gänge vor, die zur Königsburg hinführten. Vor lauter Rennen vergaß er sogar Igraine und seine Tochter. Ein Mal noch, ein weiteres Mal, lenkten ihn seine Schritte, ohne dass er es wirklich geplant gehabt hätte, bis zu der eisenbeschlagenen Eichentür, hinter der der Saal des Großen Rates lag.
Dort hatten sich einst die Könige der freien Völker um den Talisman der Menschen herum versammelt: den Stein von Fal, der in die Mitte einer gigantischen, mit altertümlichen Rankenornamenten gravierten Bronzetafel eingelassen war. Der Fal Lia, der Heilige Stein, der ächzte, sobald sich ein rechtmäßiger König näherte ... Fieberhaft wühlte er in seinem durchnässten Samtgewand und förderte einen schweren Schlüssel zu Tage, den er ins Schloss hineinschob. Die Tür öffnete sich mit einem unheimlichen Knarzen und gab den Blick auf einen Saal frei, in dem es nach Schimmel roch. In dessen Innern war es düster und kalt. Die auf den Pfeilern zwischen den einzelnen Fenstern angebrachten Banner moderten langsam
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