Fetjaine, Jean-Louis - Die Elfen 02
verschiedenster Empfindungen ausgeliefert: Verwirrung, Verzweiflung, ein Gefühl der Stärke, grenzenloser Stärke, Wut... Doch nur eine Sekunde lang. Denn, obgleich er alleine war und beinahe nackt (er trug nur einen schmutzigen Lendenschurz und Stiefel), nahm er die Gegenwart Llianes wahr, während sein Schwert wieder schwer gegen seinen Schenkel schlug und er in diesem Geisterboot ohne Ruderer oder Steuermann dahintrieb. Lliane war nicht neben ihm, sie war in ihm ... Ja, mehr noch. Sie war er. Und ein ungeahntes, intensives Feuer, das Gefühl einer immensen Macht loderte in seinem Busen. Der Atem des Drachens ...
Er sah das Gesicht Morganes wieder vor sich, seiner winzigen Tochter, die er in den Armen gehalten hatte, so zerbrechlich, zierlich und bleich. Er hatte die hauchzarte Berührung ihrer kleinen Hände auf seinem Gesicht gespürt. Er hatte sich über ihr strahlendes Lächeln gefreut, über ihr Vogelgezwitscher und ihre Blicke, die so plötzlich ernst werden konnten, als spukten unzählige Gedanken in dem kleinen Kopf herum. Mit einer instinktiven Bewegung wandte er sich nach Avalon um, aber es war nichts mehr zu sehen außer dem unheimlich dichten Nebel, der in ihm die ferne Erinnerung an seine erste Überfahrt weckte. Eine ganze Flut von Bildern und Gedanken stürzte auf ihn ein, eine derartige Überfülle, dass er die Augen schließen musste, um ihren Ansturm zu lindern. Lliane, Morgane, das Verstreichen der Tage unter jenen rasch dahinziehenden Wolken, und jenes schillernde kleine Volk, das er zu zähmen gelernt hatte. Konnte es sein, dass das Feen waren?
Ein zunehmender Lärm auf der anderen Seite des Dunstes riss ihn aus seinen überschäumenden Gedanken, während sieh die letzten Nebelbänke vor seinen Augen auflösten. Da waren dieselben Gestade, derselbe Wald, derselbe graue, regenverhangene Himmel; aber der Küstenstreifen, den er einsam zurückgelassen hatte, war jetzt schwarz von Leuten. Eine ganze Stadt aus Hütten und Zelten war dort errichtet worden, durchsetzt mit Säulen aus schwarzem Rauch, der von hunderten Lagerfeuern aufstieg. Oriflammen schlugen knatternd im Wind, Pferde scharrten ungeduldig mit den Vorderhufen, und Uther packte die Angst, als er diese riesige Menge sah, die sich da vor dem Wald drängte, als würde sie ihn erwarten, während die Stille ringsum immer lastender wurde.
Langsam richtete er sich in der Barke auf und bezwang das Zittern seiner Hände. Es waren Tausende, Elfen und Menschen gemischt, und ihr Lager war regelrecht eine Stadt...
Als er sich dem Ufer näherte, erkannte er Merlin in seinem weiten blauen Gewand wieder, dann Ulfin, Bran und mehrere seiner einstigen Kameraden, Ritter und Schildknappen aus dem Königshaus. Sie alle wirkten, als würden sie ihn seit Monaten erwarten …
XIII
Die Nacht des Pendragon
Seit Wochen hatte es nicht mehr aufgehört zu regnen, und daher war jede größere militärische Operation seither unmöglich gewesen. In den letzten Oktobertagen war der
Regen dann der Kälte gewichen. Der Waldrand hallte allerorten von den Axthieben der Holzfäller oder dem Kreischen ihrer Sägen wider. Im gesamten Königreich, bis ins Zentrum von Loth hinein, legten die Menschen Holzvorräte für den Winter an, der, so wie es aussah, lang und rau werden würde. Doch zumindest gäbe es keinen Krieg ...
Seit einem Jahr hatte das Heer des Regenten im Kampf gegen aufständische Baronien im Norden einige kleinere Siege davongetragen. Das genügte, um Dankmessen abzuhalten, doch es genügte nicht, um sich wirklich sicher zu fühlen. Sie streuten den Leuten Sand in die Augen, das war alles ... Die eigentliche Schlacht hatte noch gar nicht stattgefunden. Weder gegen die Elfen noch gegen das Heer der Herzöge. Winter, Frühling und ein neuer Sommer waren langsam mit dem Warten auf eine Apokalypse verstrichen, die doch nie kam. Tage und Wochen folgten aufeinander, eine glich der anderen, mit dem üblichen Quantum an Neuigkeiten und Gerüchten. Man munkelte, dass Léo de Grand de Carmelide überhaupt nicht tot sei. (Aber das war ja nichts Neues. Das Gerücht ging schon seit dem Ende des Turniers ein Jahr zuvor um.) Weiter erzählte man sich, er hätte ein gigantisches Heer ausgehoben und sich mit den Barbaren in den Marken verbündet. Andere versicherten, die Elfen hätten zu Tausenden den Wald verlassen, gleich einem reißenden Strom, und sie töteten alles, was ihnen unterwegs in die Quere käme, Tiere wie Menschen. Und manche
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