Feuer brennt nicht
geht, und hier und da kleine Reparaturen vornimmt oder etwas streicht, setzt er sich zwischen die unausgepackten Kisten und arbeitet die Endfassung am Computer aus.
Abends erkunden sie gemeinsam ihren neuen Stadtteil. Das Bahnhofsgebäude voller Spitzbögen und Zinnen und gusseiserner Säulen aus der Kaiserzeit liegt neben dem Kurpark; einst fuhr man zur Erholung hier heraus, und geht man durch die gepflasterten Straßen, die Lindenallee oder Kastanienallee oder Breestpromenade heißen, und blickt zwischen den stuckverzierten Häusern hindurch in die Gärten, das Blühen, glaubt man kaum, noch in der Stadt zu sein. Abgesehen von einer überschaubaren Plattenbausiedlung und einem Hochhaus gegenüber der Kirche gibt es nur wenig große Gebäude. Die erdrückende Berliner Wuchtigkeit fehlt fast ganz, die meisten der um die Jahrhundertwende errichteten, vom Denkmalschutz umsorgten Häuser verkörpern noch jenes ursprüngliche Wohlwollen, das die Architektur vor dem modernen Zweckdenken beseelt haben muss. Vor vielen, auch vor den behutsam in die Zeilen eingefügten Neubauten, stehen brusthohe Zäune aus Metall, Kunstschmiedearbeiten, dieTradition haben; hier und da sieht man Ornamente aus dem Jugendstil. Die Wälder ringsum scheinen endlos zu sein, Fichtenschonungen und Mischwälder voller alter Bäume, und in der ersten Nacht auf ihrer Terrasse fällt ihnen auf, dass sie in all den Jahren in der Innenstadt nie einen derart klaren Sternenhimmel gesehen haben. In der zweiten, unterm vollen Mond, hören sie einen Kuckuck rufen.
Er spricht sie aus fast jedem Blickwinkel an, dieser Kiez, auch wenn ihnen manches darin nicht ganz geheuer vorkommt. Am Anfang jedenfalls macht die Stille den Eindruck, als würden die Straßen etwas verschweigen. Das »Weberschiffchen«, ein geräumiges Restaurant mit offenem Kamin und Eichenpaneel, ist leer; auf dem Schaufenstersockel der italienischen Eisdiele sitzt lediglich ein Polizist und löffelt in seinem Becher, und leer saust die gelbe, mit Reklame für das »Neue Deutschland« beschriftete Tram durch den Ort. Überall auf den Balkonen Blumen, gehegt und gepflegt, aber kaum irgendwo ein Mensch … Obwohl die Temperaturen sommerlich sind und es immer länger hell bleibt, hat man schon ab sieben Uhr abends die Vorhänge zugezogen und die Rollos herabgelassen, und hier und da flackert Fernseherlicht durch die Ritzen.
Viele Alte leben hier, Bürger des vergangenen Staates, die selten lächeln, kaum je grüßen und statt »Supermarkt« noch »Kaufhalle« sagen. Oft haben sie einen Rezeptschein oder eine ärztliche Überweisung in der Hand, und nicht selten empfinden Wolf und Alina die gespenstische Neutralität in den Mienen als bedrückend, wenn nicht gar bedrohlich. Offenbar war esso, dass man in der DDR nicht zeigen durfte, wenn es einem gut ging, wenn man heiter und lebensfroh war; das erregte Verdacht. Aber erkennen zu lassen, dass es einem schlecht ging, dass man in und an dem Staat litt, war ebenso verdächtig, und so haben sich die meisten Menschen der alten und mittelalten Generation diese zementgraue Reglosigkeit in den Gesichtern zugelegt, eine dünnlippige Maske. Dazu kommt das Fehlen jeder Dezenz, das unverhohlene Glotzen, und wenn die beiden über die zentrale Bölschestraße schlendern und Alina über eine dumme Bemerkung oder einen Witz von ihm lacht auf ihre freie und leuchtende Art, bleiben nicht selten Menschen stehen oder drehen sich nach ihnen um.
Rotdornbäume und Kastanien überwölben die krummen Bürgersteige, an deren Holprigkeit man sich nur schwer gewöhnt, in manchen Dachrinnen wächst Gras, und fast immer zieht es sie auf ihren Wegen zum See, dem Magneten der Seele, wie Alina ihn nennt. In dem tief unter dem grünen, von der sinkenden Sonne vergoldeten Wasser der Spree gelegenen Tunnel ist es nachts so kühl, dass man den Atemhauch sieht, und wenn sie aus einem der Lokale am Ufer kommen und nichts als ihre eigenen Schritte auf dem glänzenden Pflaster hören, können sie ihr Glück kaum fassen. Ein Igel trippelt unter ein parkendes Auto, ein Käuzchen ruft, und jede Straße scheint ihren eigenen Mond zu haben.
Doch das sind letztlich Illustrationen; der eigentliche Reiz des Bezirks, der zu Köpenick gehört, hat einen weniger lyrischen Grund: Friedrichshagen ist ganzeinfach ein schöner Stadtteil, der noch nicht von Reichen besetzt wurde. Dazu sind die Wohnungen in der Regel zu klein. Neben den erwähnten Alten leben hier zunehmend junge, offenbar aus dem
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