Feuer der Götter: Roman (German Edition)
muss sich hinter den Himmelsbogen abwenden! Ich kann nur noch sterben.«
»Warum?«, schrie sie gegen den Wind an, der ihr das Haar ins Gesicht drückte. »Warum?«
»Weil ich weiß, was geschehen wird. Jetzt ist nichts mehr aufzuhalten. Der Schattenhauch wird entfesselt. Möge Toxina Ica mir beistehen – ich will dem nicht zusehen müssen.«
Abrupt drehte er sich um, breitete die Arme aus, als wage er den Irrsinn, sich mit den Axotflügeln in die Lüfte zu erheben – und sprang.
Naave stieß einen heiseren Schrei aus. Sie stürzte nach vorne, sackte auf die Knie und beugte sich über den Rand der Brücke. Da verschlang schon der gischtende Fluss den Körper ihres Vaters und riss ihn in die Tiefe.
Sie wusste nicht, wie lange sie so kniete. Ewig. Irgendwann fühlte sie sich von Royia an den Schultern gefasst und hochgezogen. Sie ließ sich von ihm halten, sog seinen Geruch nach Mann und Feuer ein; dann bemerkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Waldmensch hatte sich auf die Seite gedreht und schaute ängstlich hinunter in die Masse all der vielen Menschen, die nach wie vor schweigend ausharrten. Die anderen Priester waren verschwunden, die Tempelwächter hingegen zurückgekehrt. Und Zoi war da. Drei Schritte stand die Priesterin entfernt, die Wächter hinter ihr. Ihre Miene war wie versteinert. Langsam senkte sie den Kopf mit dem siebten Mond.
»Es ist nun geschehen, was der Hohe Priester wollte: Du hast seinen Platz eingenommen. Du bist die Hohe Priesterin.« Sie sagte es tonlos, wie erschöpft, als sei von allen schlimmen Dingen das Schlimmste eingetreten. Langsam richtete sie sich wieder auf, musterte Naave auf ihre spitze Art und schürzte die Lippen. »Ich würde dir dennoch dringend empfehlen, den Unterricht in meinem Turm zu beginnen.«
Naave war sich nicht sicher, richtig gehört zu haben. Hohe Priesterin – sie, und so schnell? Aber an diesem Tag der Unmöglichkeiten konnte wohl auch das geschehen.
20.
E s tut mir leid, dass ich hierbei so gar keine Hilfe bin.« Royia blätterte in einem der Chronikbände und legte ihn auf einen Stapel. »Bei uns kerbt man nur. Und das habe ich mehr schlecht als recht gelernt. Anscheinend ist Lesen keine Fähigkeit, die auf dem Bergpalast gefragt ist.«
»Vielleicht solltest du doch auf die Hilfe der lesekundigen Priester zurückgreifen, Herrin«, wagte Iine einzuwenden. Mit gekreuzten Beinen hockte die junge Tempeldienerin auf dem Boden der Schriftenkammer, wie auch Royia und Naave, und half, die riesige Chronik nach dem Rätsel zu durchforsten. Gefunden hatten sie bisher nichts. Naave graute es vor dem Kasten mit der älteren Chronik, die sicherlich noch viel mühseliger zu lesen war. Sie klappte ihren Band zu und griff nach einem Becher.
»Wenn der Hohe Priester, der als Einziger das Schlimme hinter der Wahrheit kannte, schon nicht von ihr abrücken konnte, wie sollen dann die anderen Priester eine Hilfe beim Suchen sein? Sie werden mir in den Ohren liegen, dass alles so zu bleiben hat, wie es immer war. Allen voran Zoi. Nein, wir müssen es selbst herausfinden. Es muss doch hier irgendwo stehen!«
Naave trank einen Schluck Wasser und zog den nächsten Band auf den Schoß. Sie schlug ihn auf, doch die Schriftzeichen und Bilder verschwammen vor ihren müden Augen. Sie lehnte sich gegen das Regal. Unter ihrem Gewicht knirschte ein Korb mit beschrifteten Tonkissen. Aus halbgeschlossenen Augen sah sie zu, wie Royia geschmeidig aufstand, zum Fenster schlenderte, die Arme auf die Brüstung legte und sich hinauslehnte. Er war hier – es kam ihr noch immer unwirklich vor.
Der sechste Tag neigte sich dem Ende zu; der Abend hatte sich über die Stadt gesenkt. Und wie an jedem ersten Tag des neuen Jahres war die Stadt in einen Dämmerzustand gefallen. Die Menschen schliefen in ihren Häusern, den Festhütten oder auch auf den Straßen ihren Rausch aus. Nur einige Tempeldiener hatten sich wie jedes Mal nach dem Fest aufgemacht, um jene zu bergen, die von den Wächtern erschlagen oder von der Menge zerdrückt worden waren. Früher hatte Naave nie zugesehen, wie sie dieser grausigen Arbeit nachgingen. Sie war zurück in ihre Hütte im Graben geflüchtet, um dort Vergessen zu finden. Oder zu ihrem kleinen steinernen Gott auf dem Inselchen. Heute jedoch hatte sie am Fenster gestanden. Sie empfand es als ihre Pflicht, die Augen nicht mehr davor zu verschließen.
Und dafür zu sorgen, dass es damit endgültig ein Ende hatte.
Den Rest des Tages hatten sie und
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