Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Feierlichkeiten auf dem Tempelplatz, um der Zeremonie zuzusehen. Und wie jeder Städter hatte sie sich als Kind gegruselt, als junges Mädchen Tränen des Mitleids vergossen und mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter begonnen, sich nicht mehr viel dabei zu denken. Nein, das stimmte nicht ganz. Der alte Maqo, neben dem sie in der Menschenmenge gestanden hatte, beim Fest vor zwei oder drei Jahren, hatte ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: Ab jetzt weinst du nicht mehr. Das geht, glaube mir! Den Familien der Opfer geht es ab heute gut. Wird’s uns denn mal bessergehen? Nein. Also!
Seitdem blieb ihre Miene unbewegt, wenn sie zusah, wie der Leichnam des Opfers von der Brücke gestoßen wurde, wie er sich in der Luft drehte … und im Großen Beschützer verschwand. Und immer herrschte Totenstille, da jeder in der Menge den Atem anhielt.
Jetzt krampfte sich ihre Brust vor Entsetzen zusammen, wenn sie nur daran dachte, einen Ritualdolch in das Herz eines Menschen zu stoßen.
Nein, das schaffe ich nicht. Niemals. Lieber bleibe ich mein Leben lang im Graben.
Unruhig blickte sie um sich. Irgendwo musste sich doch eine Fluchtmöglichkeit auftun? Mittlerweile waren sie in einem Bereich des Tempels angelangt, wo überall Wachen herumstanden. Und waren ihr die Wege durch die Gänge und Kammern zuvor endlos erschienen, ging jetzt alles erschreckend schnell. Tlepau Aq trat durch ein steinernes Tor, das eine riesige Sonne aus grünem Stein bekränzte.
»Das Jadetor«, erklärte er. »Es markiert den Weg hinauf zur Sonne.«
Danach ging es über einen Platz, in einen schmalen, mit Jadesteinen verkleideten Gang und eine Treppe hinauf; hier hörte sie schon den Fluss rauschen. Sie gelangten in eine runde Kammer, an deren Ende eine Tür zu einer Brücke hinausführte. Die Opferbrücke! Dort, im hellen Sonnenlicht, lag das Opfer auf einer Trage.
Tlepau Aq blieb vor einem Kupferbecken stehen. »Hier musst du dir die Hände waschen.«
Hinter sich hörte sie Schritte. Sie fuhr herum. Ein Priester kam herein, mit einem Tablett auf den Händen. Bunte Flüssigkeiten schillerten in Glaskaraffen. In einer Schale lagen kleine Flussschwämmchen und auf einem Tuch ein glänzender Bronzedolch.
Naave stürzte auf ihn zu und stieß das Tablett hoch. Aufschreiend fiel der Priester hintenüber; sie stieg über ihn hinweg und drängte zurück auf die Treppe.
»Naave!« Tlepau Aq packte ihr Handgelenk.
»Ich kann das nicht!«
Er war stark. Sosehr sie sich auch wand, er ließ sie nicht los.
»Beruhige dich, meine Tochter.« Mit der anderen Hand ergriff er ihre Schulter und zwang sie, ihn anzusehen. »Du sollst es nicht einfach so tun – es gibt Hilfsmittel. Der Novize hat sie gerade gebracht.«
Der junge Priester rappelte sich hoch und trug, was nicht zu Bruch gegangen war, zu einem Tischchen.
»Ich kann das trotzdem nicht«, beharrte sie.
»Glaub mir, bei meinem ersten Mal schlug mir auch das Herz bis zum Hals. Wie auch meinem Vater und dessen Vater zuvor – sie alle schrieben es im Buch der Aqs auf. Das ist eine Sammlung priesterlichen Wissens, ein Lehrbuch für Hohe Priester. Es ist auch eine Art Familienchronik. Seit dreihundertzwanzig Jahren sitzen Aqs auf dem Stuhl des Hohen Priesters …«
Ihr schien, als redete er davon, um sie zu beruhigen. Tatsächlich ließ ihr Zittern ein wenig nach.
»Davor waren es die Pitataqus; aus deren Chronik stammen die Rezepte für diese Tränke, und davor … Aber das ist jetzt unwichtig. Irgendwann später wirst du sie lesen, aber nun müssen wir das Opferritual vollziehen.«
Er ging zu dem Tisch, nahm eines der Schwämmchen und goss eine rötliche Flüssigkeit darauf. Mit einer Schnur band er es sich unter die Nase. »Das ist Öl, das aus den Nüssen der Rotpalme gewonnen wird. Es duftet so kräftig, dass es den Geruch des Blutes überdeckt.«
Ein zweites Schwämmchen tränkte er mit blauer Flüssigkeit. »Wie gut, dass das Gefäß mit dem Öl der blauen Sonnenpalmfrucht nicht zu Bruch gegangen ist, denn es stärkt die Sinne und vertreibt sämtliche störenden Gedanken. Dazu ein Tropfen der goldenen Sonnenpalme …«, hierzu tupfte er die Spitze des Schwämmchens in eine golden schimmernde Lache am Boden. »Das sorgt für eine ruhige Hand.«
Er band es unter Naaves Nase fest. Unwillkürlich atmete sie flach.
»Sind deine Hände sauber? Dann komm.«
Süßlicher Geschmack legte sich auf ihre Zunge. »Aber so eine Zeremonie muss doch angekündigt werden, damit Zuschauer kommen«, warf
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