Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Naave. Siehst du Vertrautes in meinem Gesicht?«
»Ich ähnele meiner Mutter.«
»O ja, das tust du. Aber deine Augen, die Form deiner Brauen – erkennst du sie in meinen nicht wieder?« Er griff nach einer bronzenen Platte, die Naave zwischen all den Schalen und Tellern nicht aufgefallen war. Als er sie ihr reichte, begriff sie, dass es ein Spiegel war.
Die Oberfläche des Metalls war glatt und blank. Bisher hatte sie ihr Gesicht nur sehen können, wenn sie sich über eine Wasserschale gebeugt hatte. Nun erblickte sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, als stünde sie einem anderen Menschen gegenüber. Sie betrachtete das Gesicht des Hohen Priesters und verglich.
Es war unübersehbar.
Tlepau Aq lächelte triumphierend. »Nun?«
Sie legte den Spiegel zurück. »Und wenn ich das alles nicht will?«
»Die Götter haben dich hergeschickt. Und das nicht einfach so – du hast einen Feuerdämon mitgebracht, welch ein Beweis ihrer Gunst! Du kannst nicht ablehnen.« Er sank in den Stuhl und rieb sich die Schläfen. »Glaubst du, ich wäre glücklich darüber? Ein Mädchen aus dem Graben soll das höchste Priesteramt übernehmen! Nun, dem Gott-Einen sei Dank, dass ich noch nicht alt bin. Nicht jung, aber auch kein Greis; ich werde hoffentlich noch viele Jahre Zeit haben, dich alles zu lehren und dir zu helfen, deine Vergangenheit abzustreifen.«
Ihr schauderte es. Das hörte sich nach Zwang und Arbeit an und dass sie in diesem prächtigen Tempel eher wie eine Gefangene leben sollte.
Tique, steh mir bei, dachte sie.
Aber Tique hatte sie erhört. Er hatte sie aus der Gosse geholt, wie sie es erfleht hatte.
Vielleicht liege ich ja am Ufer und träume nur. Gleich wache ich auf, gehe fischen, und alles ist, wie es sein soll.
»Nun, was denkst du, meine Tochter?«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte sie kläglich. »Warum ich? Ich meine, warum widerfährt mir das?«
»Vielleicht geht es den Göttern darum, dass es einmal eine Hohe Priesterin geben soll, die beides kennt: das Leben diesseits und jenseits der Tempelmauern. Bleib hier und finde es heraus.«
Zögerlich nickte sie. »Wenn ich ablehne, wirst du mich ja vermutlich ohne Belohnung ziehen lassen, und das will ich auch nicht.«
Und eine Hohe Priesterin würde gewiss niemand daran hindern, auf den Fluss hinauszufahren und zu fischen. Das war ein tröstlicher Gedanke.
Er lachte, rieb sich erfreut die Hände und erhob sich. Eigentlich mochte sie ihn, stellte sie überrascht fest. In seinem Bemühen, den Göttern zu dienen, hatte er etwas Unbedarftes und Weltfremdes an sich.
»Liebe Naave Aq, du musst einen wichtigen Beweis erbringen, um zu zeigen, dass du würdig bist, Priesterin zu werden: Du musst ein Blutopfer darbringen.«
»Ach, das kann ich. Ich bin ja Fischerin.«
»Gut«, er bat sie mit einer Handbewegung, aufzustehen. »Du wirst es gleich morgen früh tun, dann musst du nicht länger darüber nachdenken, was es heißt, einen Menschen zu töten. Für jeden Novizen ist das erste Mal schlimm.«
4.
N aave betrachtete den duftenden Käse, das Manoqbrot und die blauen Gläser mit frisch gepresstem Peccasaft, der die Gefäße grün schimmern ließ. Von einem solchen Frühstück konnte sie sonst nur träumen – im Graben kaufte man alte Manoqlaibe, die man in Flusswasser einweichen musste. Gelegentlich in Ziegenmilch, und das war dann ein üppiger Tagesbeginn.
Nun saß sie hier in einem kleinen sonnigen Zimmer auf einer mit Vogelfedern gepolsterten Matte und vermochte nichts anzurühren. Als sie sich schlafen gelegt hatte, müde von den Ereignissen des Tages, hatte sie einen Kloß in der Brust verspürt. Jetzt saß er ihr schon in der Kehle. Noch eine Stunde, und sie würde daran ersticken.
Einen Menschen töten!
Wie stellte ihr Vater sich das vor?
Es klopfte, eine Priesterin trat ein und verneigte sich. »Der Hohe Herr möchte, dass ich dich zu ihm führe, wenn du fertig bist.«
»Ich bin fertig«, krächzte Naave. Der Klumpen machte es ihr unmöglich, richtig zu sprechen.
»Dann komm.«
Sie folgte der Frau, nahm kaum wahr, dass sie bald vor Tlepau Aq stand. Linkisch breitete er die Arme aus und umarmte sie sehr vorsichtig.
»Hast du gut geschlafen, Tochter?«
Sie nickte.
»Dann folge mir.«
Wie betäubt tappte sie hinter ihm her. Sie wusste, was ihr nun bevorstand. Man tat es zu besonderen Anlässen und während des Festes der Endenden Finsternis. Wie jeder Städter stand sie alljährlich am letzten Tag der
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