Feuer der Götter: Roman (German Edition)
anderen Stammes in der Nähe des Baums der Erkenntnis ums Leben gekommen war. Sie sei abgestürzt. Die Frauen hatten sich darüber unterhalten, aber er hatte auf ihren Klatsch nie geachtet. Napati wäre niemals auf den Berg gelangt; er hätte sich für sie nicht geöffnet. Warum sie also töten? Vielleicht weil sie lästig gewesen war und Fragen gestellt hatte.
Weil man alles tut, um das verdammte Geheimnis zu schützen.
»Napati …«, schniefte Muhuatl und hob den Kopf. »Napati hatte sich nie vor mir gefürchtet. Nicht so wie die anderen Frauen. Die blieben immer auf Abstand. Erging es dir auch so?«
Royia nickte. Allzu gut.
»Ich glaube, den Toxinacen ist das gerade recht. Dann hat man kein Weib, das heult oder Ärger macht, wenn der Erwählte geht. Hat man dich auch damit vertröstet, dass eine Göttin auf dich wartet? Natürlich, Tique ist der Gemahl der Göttin des vierten Mondes. Varuta, die Göttin der Vaiiaschote, wäre die meine gewesen.«
Muhuatl ergab sich wieder seiner Trauer. Seitlich ließ er sich in seine Hängematte gleiten; sein Schniefen vermischte sich mit dem Prasseln des Regens. Das Mädchen erhob sich und versetzte die Matte in sanftes Schwingen. Es war deutlich, dass ihr sein Verhalten vertraut war. Royia spürte Naaves Hüfte an seinem Schenkel. Wäre es nicht ein ganz und gar absonderlicher Gedanke, so würde er meinen, sie rücke absichtlich dicht an ihn heran. Wäre er ein normaler Mensch und sie eine, nun ja … normale Frau, würde er den Arm um ihre Schulter legen. Eine Träne war ihr die Wange hinuntergelaufen. Sie schniefte leise, als sie sie fortwischte. Ja. Eine solche Geschichte sollte kein Mädchen hören. Nicht einmal eine Wildkatze wie sie.
Muhuatl setzte sich wieder auf, rotzte in seine Hände und wischte sie an dem fleckigen Schurz ab. »Lass uns trinken«, er hob seine Schale. »Das lenkt wenigstens ab. Was hat dich veranlasst, fortzulaufen?«
»Ich habe beobachtet, wie die Toxinacen mein Axot häuteten. Und leider konnte ich mich nicht beherrschen, einem von ihnen zu zeigen, was ich davon halte.«
»O ja, das haben sie mit meinem bestimmt auch gemacht, obwohl ich es nicht gesehen habe. Weißt du, was ich glaube? Sie verkaufen die Häute an Düstere, und die verkaufen sie in der Stadt. Die Priester dort tragen sie nämlich. Es ist eine Schande.«
»Ihr kocht sie und schneidet ihnen die Zungen ab«, sagte Naave.
Muhuatl runzelte die Stirn. »Das müssen wir. Glaub mir, Mädchen, es gefällt uns nicht. Aber die Kadaver müssen ja irgendwohin. Die Zungen dienen uns als Medizin. Das Fleisch vergraben wir, damit es keine Aasfresser anlockt, und die Knochen bewahren wir in einer Höhle auf. Wir dürfen den Toxinacen nicht auffallen.«
»Ich frage mich, ob die Götter von ihrem Unwesen wissen«, überlegte Royia.
»Tique weiß es bestimmt nicht!«, warf Naave leidenschaftlich ein. »Er würde sonst …«
»Mädchen!«, fauchte Muhuatl sie an, dass sie augenblicklich verstummte. »Tique ist zurzeit tot! «
Mahnend hob Royia eine Hand. Muhuatl rollte die Augen, schwieg aber.
»Es gab einmal vor undenklichen Zeiten einen Gott namens Tique«, erklärte Royia, und endlich würde sie ihm zuhören. »Aber er war nicht unsterblich. Keiner der Götter ist es, nur Toxina Ica, der Gott-Eine. Ein Gott stirbt, und ein Erwählter nimmt seinen Platz ein. Es hat viele Tiques gegeben, Hunderte vielleicht. Ganz genau hätte ich das erst auf dem Bergpalast erfahren, aus dem Munde des Einen, aber dazu kam es ja nicht mehr.«
Muhuatl lachte böse.
Naave presste die Hände an die Wangen und schüttelte den Kopf. Aus ihren Augen sprach völlige Verwirrung.
Darum erfahren gewöhnliche Menschen nichts davon, dachte Royia. Er leerte seine Schale. Der Rauschtrank fühlte sich gut im Kopf an. »Erzähl weiter, Muhuatl.«
»Ich floh in den Wald. Wie du. Ich gelangte in die Stadt. Warst du auch in der Stadt?«
»Ja.«
»Ein böser Ort. Ein böser Ort! Ich kehrte in den Wald zurück, irrte dort herum, tötete Düstere und andere – ich war ein wildes Tier. Ich wollte sterben. Dieser Stamm von Düsteren nahm mich auf und folgte mir in die Tiefe des Waldes. Wir kamen hierher … Seitdem helfen sie mir, mich zu verstecken, und ich schütze sie vor wilden Tieren. Sie achten darauf, sich im Wald leise zu bewegen, um niemanden auf meine Spur zu bringen. Allerdings muss ich mit meinen Feuern aufpassen, dass sie nicht zu groß werden. Wilde Feuer gibt es ja immer und überall, aber es sollte
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