Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Ich glaube, ich habe sie vor ein paar Wochen in der Stadt gesehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich war, weil sie eine Mütze aufhatte. Sie hat sich nicht mehr gemeldet. Ich nehme an, sie bereut, dass sie vor Weihnachten die Schule geschmissen hat. Sie hielt es sicher für einen coolen, rebellischen Entschluss.
Irgendwie bin ich froh, dass du nicht miterleben musst, was hier passiert. Das neue »positive« Engelsfors. Hier ist jetzt noch weniger Platz für solche wie uns. Und ich bin froh, dass du deine Eltern nicht sehen musst. Wenn du damals dachtest, diese Stadt wäre verrückt …
Muss jetzt los, ich muss ein braves Mädchen sein und mich gut benehmen, in der Schule, bei Jakob, bei Diana. Sie verhält sich fast wieder wie früher, aber ich traue ihr nicht mehr.
Ich liebe dich, E. Wo immer du sein magst, ich hoffe, du bist glücklich.
Linnéa klappt ihr Tagebuch zu.
Sie nimmt ihr Schminktäschchen heraus, wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel der Puderdose und zieht mit kohlschwarzem Eyeliner ihren Lidstrich nach. Dann hüpft sie von der Fensterbank und verlässt die Toilette. Bereit für den Tag.
So bereit sie eben sein kann.
Vanessa knallt die Spindtür zu und schließt ab.
PE -Aufkleber leuchten ihr von jedem zweiten Spind entgegen, an dem sie vorbeiläuft. Am Schwarzen Brett hängt ein großes neongelbes Plakat, das die Nachricht vom Frühlingsfest nächste Woche herausposaunt.
Vanessa nähert sich der Sitzgruppe, wo Michelle mit baumelnden Beinen auf dem Tisch sitzt, rechts und links flankiert von Mehmet und Rickard.
Als Michelle ihr zuwinkt, nickt Vanessa im Vorbeigehen kurz.
Seit Michelle bei PE mitmacht, haben sie und Mehmet sich nicht mehr getrennt. Michelle scheint sich zwar nicht viel aus der Bewegung zu machen – und nie im Leben würde sie ein gelbes Poloshirt anziehen –, aber sie macht sich viel aus Mehmet.
Und weil Vanessa und Evelina die Sekte nicht ausstehen können, teilen sie sich eben mit Mehmet das Umgangsrecht für Michelle.
Vanessa hat gerade ihr Handy aus der Tasche gezogen, um Evelina eine SMS zu schicken, als neben ihr jemand auftaucht.
»Hi«, sagt Viktor.
Vanessa bleibt stehen und schaut ihn an. Sein schwarzer Wintermantel ist mit kleinen, glänzenden Wassertropfen bedeckt und seine Haare sind nass.
»Was willst du?«, fragt Vanessa.
»Kann ich kurz mit dir sprechen? Alleine.«
Er nickt in Richtung einer Klassenzimmertür. Vanessa seufzt und folgt ihm.
Der Regen ist kräftiger geworden, prasselt laut gegen die Fenster. Viktor macht die Tür hinter sich zu und schließt ab. Dann bleibt er einen Augenblick stehen. Die kleinen Wassertropfen verdunsten, und seine Haare legen sich, als wären sie frisch geföhnt.
Praktisch, denkt Vanessa.
Viktor zieht seinen Mantel aus und legt ihn sich über den Arm. Als sie ihn genauer ansieht, fallen ihr zwei Dinge auf, die sie noch nie zuvor an ihm bemerkt hat. Müdigkeit. Und ein Anflug von Unsicherheit.
»Und?«, sagt sie ungeduldig. »Worüber willst du mit mir reden?«
»Du kannst Anna-Karin ausrichten, dass es Zeit für ihr Verhör ist«, sagt Viktor. »Ich nehme sie nach der Schule mit.«
»Warum sagst du ihr das nicht selbst? Du bist doch in ihrer Klasse?«
»Das weiß ich«, sagt er.
Sie wartet auf eine Erklärung, aber es kommt keine. Viktor steht nur da und verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Okay, ich sag’s ihr«, sagt Vanessa.
»Ich dachte, es ist vielleicht leichter für sie, wenn sie es von dir erfährt.«
»Wie nett von dir, dass du so rücksichtsvoll bist«, sagt sie.
Viktor sieht gekränkt aus. Aber Vanessa fällt nicht auf seine kleinen Tricks rein.
Ist ihm nicht klar, dass sie über ihn reden? Dass sie vergleichen, was er zu wem gesagt hat? Sie haben ihn schon lange durchschaut. Er spielt bei jeder von ihnen eine andere Rolle. Vanessa gegenüber ist er meist still und ernst. Vermutlich glaubt er, das würde sie nervös machen.
»Ich bin nicht …«, setzt er an, aber dann bricht er ab. »Wenn du denkst, dass mir diese Ermittlungen Spaß machen, muss ich dich leider enttäuschen.«
»Dann ist es ja ein Glück, dass ihr sie über ein halbes Jahr hingezogen habt.«
»Wir müssen gründlich sein«, sagt er. »Das heißt nicht, dass es mir gefällt.«
»Das tut mir wirklich leid für dich, Viktor.«
Er schaut weg. Scheint sich plötzlich wahnsinnig für die Tafel mit dem Periodensystem zu interessieren, die an der Wand hängt.
»Ich weiß. Es ist egal,
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