Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
ausgetrocknet.
Sie spürt die Hitze des Asphalts unter den Sohlen ihrer Sandalen, während sie den Schulhof in Richtung Eingang überquert. Hier und da entdeckt sie neue Gesichter, oder besser gesagt, alte neue Gesichter, die sie noch von der Mittelschule kennt. Sie waren für ein Jahr verschwunden. Jetzt sind sie alle wieder am selben Ort versammelt.
Sie sehen so klein aus, denkt Minoo.
Es kommt ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass sie zum ersten Mal hierhergekommen ist, und doch ist nur ein Jahr vergangen. Damals fühlte sie sich so reif, so erwachsen, bereit für ein neues Leben. Voller Vorfreude darauf, dass etwas Großes passieren würde. Wenn sie gewusst hätte, in welcher Form ihr dieser Wunsch erfüllt werden würde, hätte sie ihn definitiv zurückgenommen.
Minoo drängelt sich durch die Schülermassen in der Eingangshalle. Ihr Blick fällt auf einen Jungen aus der Zwölften, der gerade dabei ist, ein großes Plakat ans Schwarze Brett zu heften.
Er dreht sich um und lächelt sie strahlend an. Er hat dunkle Haare und trägt eine Brille mit Metallbügeln. Fieberhaft durchsucht Minoo ihr Gedächtnis nach seinem Namen. Sie glaubt, dass es Rickard ist. Einer der Fußballjungs vom ESV .
»Das solltest du dir nicht entgehen lassen!«, sagt er.
Er hat sie vorher noch nie angesprochen, aber er wartet nicht auf Antwort, sondern verschwindet im Getümmel.
Minoo betrachtet das Plakat. Unter großen roten Buchstaben, die das Wort GEMEINSCHAFT bilden, stehen ein paar Jugendliche in unmodernen Klamotten und mit fluffigen Frisuren auf einem Sommerfeld. Sie haben die Arme umeinandergelegt und lachen freimütig, die Münder voller strahlend weißer Zähne. Niedlich gerunzelte Nasen. Ein paar recken sogar den Daumen hoch.
WERDE TEIL DES POSITIVEN ENGELSFORS !, steht in Großbuchstaben unter der penetrant fröhlichen Gruppe.
Minoo wird sich das sogar mit Sicherheit »entgehen« lassen.
Ganz unten auf dem Plakat ist ein kleines Foto. Es zeigt eine lächelnde Frau zwischen vierzig und fünfzig mit lockigen, karottenrot gefärbten Haaren.
Es dauert einen Augenblick, bis Minoo es mit Helena Malmgren in Verbindung bringt. Elias’ Mutter.
Elias
.
Trotz der Hitze läuft es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Die Erinnerungen an alles, was im letzten Jahr hier in dieser Schule passiert ist, bricht über Minoo herein.
Das Blut auf dem Boden in der Toilette. Elias’ tote Augen, die an die Decke starrten.
Seine Seele, als sie sie von Max befreite.
Schon das ist eigentlich zu viel für sie, und dann beginnen auch noch Max’ Erinnerungen, sich mit ihren eigenen zu mischen, sie kann sie kaum mehr voneinander unterscheiden. Von dem, was sie in Max’ Bewusstsein gesehen hat, wird sie sich nie befreien können.
Minoo zwingt sich in die Gegenwart zurück.
Sie läuft den Gang hinunter, bleibt am Hausmeisterzimmer stehen und klopft an. Es dauert einen Moment, bis Nicolaus die Tür einen Spaltbreit öffnet und den Kopf nach draußen streckt. Er hat ein senfgelbes Hemd an und Hosen aus braunem Cord. Minoo kann sich lebhaft vorstellen, was Ida von seiner Aufmachung halten würde.
»Komm rein«, sagt er.
Sie folgt ihm in sein kleines Büro und macht die Tür hinter sich zu. Es riecht staubig und muffig. Auf dem Schreibtisch liegt das aufgeschlagene Buch der Muster und der silberne Musterfinder ist ordentlich daneben platziert.
»Ich bedauere mein Verhalten letzte Nacht«, sagt Nicolaus. »Ich war reichlich brüsk. Doch ich bleibe bei meiner Meinung. Ihr dürft das Grab auf keinen Fall öffnen.«
Er hat dunkle Ringe unter den Augen, aber sein Blick ist fest. Als wüsste er schon, dass die anderen sie geschickt haben, um ihn zu überreden, dem Projekt Graböffnung zuzustimmen. Ihr wird sofort klar, dass es keine gute Idee ist, es auch nur zu versuchen.
»Hast du etwas gefunden?«, fragt sie stattdessen und nickt zum Buch der Muster.
Nicolaus schüttelt den Kopf.
»Es schweigt nach wie vor.«
»Denkst du, dass Buch ist irgendwie kaputt?«, fragt Minoo. »Ich meine, Linnéa und Ida haben seit dem Winter nichts Neues darin entdeckt. Und man kann ja auch nicht gerade behaupten, dass es vorher besonders gut funktioniert hat.«
»Ich weiß nicht, ob es am Buch liegt oder an unserem Vermögen, seine Botschaften zu empfangen«, sagt Nicolaus und dreht den Musterfinder in der Hand. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass es versucht, zu mir durchzudringen. Mag sein, dass ich einst die Fähigkeit besaß, es zu lesen, aber wenn
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