Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
die Haare auf ihrem Selbstporträt anzumalen, bis sie einem flammenden blauen Feuer gleichen.
»Sei froh, dass du nicht da warst.«
Olivia sagt eine ganze Weile nichts.
»Ich habe nachgedacht«, sagt sie, ohne den Blick von ihrem Bild zu lösen. »Und ich glaube, wir haben uns auseinandergelebt.«
Linnéa lässt den Stift sinken und schaut sie an.
»Wie meinst du das?«
Olivia mischt mit ihren Wasserfarben ein dunkleres Blau an.
»Ich habe das Gefühl, dass uns nicht mehr dieselben Sachen wichtig sind.«
»Bist du sauer, weil ich nicht mit dir schwänzen wollte?«
»Vielleicht könnte man sagen, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat«, sagt Olivia und hebt den Blick. »Ich habe dir so dermaßen viele Chancen gegeben, Linnéa. Echt, ich kann nicht mehr. Ich muss lernen, Grenzen zu setzen. Ich meine nicht, dass wir jetzt Feinde sind oder so. Aber vielleicht sollten wir uns nicht mehr treffen.«
»Kann sein, dass es dir entgangen ist, aber eigentlich haben wir uns schon seit der Abschlussfeier nicht mehr
getroffen
.«
»Genau«, sagt Olivia ernst.
»Okay. Dann bleiben wir dabei.«
»Hört mal, ihr beiden da drüben, konzentriert euch ein bisschen«, ruft Backman vom Pult aus.
Linnéa registriert, dass er Olivias Brust mit den Augen streift, und achtet sorgfältig darauf, nur ja keinen seiner Gedanken zu lesen.
»Ich muss aufs Klo«, sagt sie, nimmt ihre Tasche und geht.
Es ist immer ein befreiendes Gefühl, das Klassenzimmer mitten im Unterricht zu verlassen, selbst wenn es nur für ein paar Minuten ist. Als hätte man es geschafft, sich ein bisschen Zeit für sich zu stehlen, eine Pause von der Wirklichkeit.
Linnéa läuft eilig die Treppen hoch und den schmalen Flur entlang, der zu den Toiletten vor der Dachbodentreppe führt.
Sofort nachdem die Toiletten freigegeben wurden, fing sie an, wieder hierherzukommen. Sie will keine Angst haben vor diesem Ort. Während der wenigen Wochen, die Elias und sie gemeinsam dieses Gymnasium besuchten, war hier ihr Treffpunkt. Inzwischen kann sie den Waschraum als einen Ort sehen, an dem er gelebt hat, nicht als den, an dem er gestorben ist.
Sie öffnet die Tür. Ein paar halb verwelkte Blumen und ausgebrannte Teelichter stehen auf der Fensterbank. Ein Foto von Elias in einem billigen Rahmen. Linnéa weiß, dass Olivia und ein paar andere aus ihrer alten Clique sich letzte Woche hier getroffen haben, um Elias’ Todestages zu gedenken. Sie selbst hat ihn damit verbracht, stundenlang seine Lieblingslieder zu hören und alle Briefe zu lesen, die Elias ihr geschrieben hat, als sie im Heim war. Sie hat eine ganze Kiste voll. Lange, lustige, traurige, dicht beschriebene Seiten, voller Zeichnungen und Bilder.
Sie wünschte, sie könnte Helena glauben. Dass es möglich ist, sich nur auf das Positive zu konzentrieren. Vergessen und weitergehen.
Als Elias starb, redete Jakob viel davon, dass sie die Trauer zulassen muss, ihr begegnen. Die Gefühle rauslassen, statt vor ihnen davonzulaufen.
Erst hörte sie nicht auf ihn. Rannte stattdessen direkt zu Jonte und wählte die einfachen Fluchtwege, die er ihr eröffnete. Aber schließlich wurde ihr klar, dass es so nicht funktionierte. Je verzweifelter sie versuchte, das Monster auszusperren, umso größer und mächtiger wurde es.
Deshalb weiß sie, dass es eine Sache ist, sich an die hellen Momente im Leben zu erinnern. Aber es ist etwas völlig anderes, so zu tun, als gäbe es die dunklen nicht.
Sie schließt sich in einer Kabine ein und lässt sich auf den Klodeckel sinken. Dann nimmt sie das Buch der Muster und den Musterfinder aus der Tasche.
Sie überlegt, wie sie ihre Frage am besten formuliert, öffnet das Buch, blättert und konzentriert sich.
Ist Helena unser Feind?
Sie dreht am Musterfinder. Was sie sieht, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was sie bisher im Buch gefunden hat.
Die Zeichen bewegen sich unruhig über das Papier, wirbeln herum, verschlingen sich ineinander und lösen sich wieder. Linnéa blättert und überall verhalten sich die Zeichen gleich. Sie strömen über die Seiten, sodass es aussieht, als würden sie jeden Moment über die Kante fließen.
Linnéa versucht, sich auf ihre Frage zu konzentrieren, aber das führt nur zu neuen Wellenschlägen im Buch.
Schließlich klappt sie es zu, packt Buch und Musterfinder zurück in die Tasche und schließt die Tür auf.
Viktor Ehrenskiöld steht vor der Kabine, in der Elias starb. Linnéa hat nicht einmal bemerkt,
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