Feuer (German Edition)
das jugendliche Lachen aus dem Dickicht.
»Ariadne, Ariadne, den Faden!«
Jetzt kam der Schall von der entgegengesetzten Seite und drang ihr ins Herz wie ein Dolchstich.
»Ariadne!«
Sie kehrte um, lief, drehte sich in die Runde, versuchte durch die Wand zu dringen, breitete das Laub auseinander, brach einen Zweig ab. Sie sah nichts, als das vielfältige und gleichmäßige Baumgeflecht. Endlich hörte sie einen Schritt so nahe, daß sie ihn dicht neben sich glaubte, und sie erbebte. Aber es war ein Irrtum. Sie durchforschte noch einmal das undurchdringliche Baumgefängnis, das sie umschloß, sie horchte, wartete; sie hörte ihren eigenen keuchenden Atem und das Klopfen ihrer Pulse. Es herrschte tiefes Schweigen. Sie blickte auf zum Himmel, der sich rein und unermeßlich über den beiden Wänden verschlungener Zweige wölbte, in denen sie gefangen war. Es schien, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als diese Unendlichkeit und diese Enge. Und es gelang ihr nicht, mit ihren Gedanken die Wirklichkeit des Ortes von der Vorstellung ihrer inneren Qual zu trennen, die natürliche Erscheinung der Dinge von jener Art lebendiger Allegorie, die ihre eigene Angst geschaffen.
»Stelio,wo bist du?«
Niemand antwortete. Sie horchte. Sie wartete umsonst. Die Augenblicke schienen Stunden.
»Wo bist du? Ich fürchte mich.«
Keine Antwort. Aber wo war er geblieben? Hatte er vielleicht den Ausgang gefunden? Hatte er sie hier allein gelassen? Wollte er das grausame Spiel fortsetzen?
Eine wütende Lust, aufzuheulen, zu schluchzen, sich auf die Erde zu werfen, mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, zu sterben, überkam die vor Furcht Sinnlose. Wieder hob sie die Augen zu dem schweigsamen Himmel. Die Spitzen der hohen Hecken schimmerten rot, wie dürres Holz, wenn es keine Glut mehr gibt und in Asche zerfallen will.
»Ich sehe dich« – sagte plötzlich im tiefen Schatten die lachende Stimme ganz aus der Nähe.
Sie schnellte in die Höhe und beugte sich wieder in den Schatten.
»Wo bist du?«
Er lachte durch das Laubwerk, ohne sich zu zeigen, wie ein Faun auf der Lauer. Das Spiel regte ihn an: alle seine Glieder wurden warm und geschmeidig bei dieser gymnastischen Übung in der Behendigkeit; und die geheimnisvolle Wildnis, der Kontakt mit dem Boden, der Herbstduft, die Seltsamkeit des unerwarteten Abenteuers, die Bestürzung der Freundin, selbst die Gegenwart der steinernen Gottheiten, mischten in seine körperliche Lust einen Anschein antiker Poesie.
»Wo bist du? O höre auf mit dem Spiel! Lache nicht so! Es ist genug.«
Auf allen Vieren war er eingedrungen in das Gesträuch mit unbedecktem Kopf. Er fühlte unter seinen Knien die mürben Blätter, das weiche Moos. Und da er freudig klopfenden Herzens in dem Zweiggeflecht atmete und sich mit all seinen Sinnen dieser Lust hingab, empfand er die Gemeinsamkeit seines Lebens mit dem Leben der Bäume inniger, und der Zauber seiner Einbildungskraft erneute in diesem Gewirr unklarer Wege die Geschicklichkeit des ersten Flügelkünstlers, den Mythus des von Pasiphaë und dem Stier geborenen Ungeheuers, der attischen Sage von Theseus auf Kreta. Diese ganze Welt wurde lebendig für ihn. Unter dem purpurnen Herbstabend verwandelte er sich, den Instinkten seines Blutes und den Erinnerungen seines Intellektes entsprechend, in eines jener halb tierischen, halb göttlichen Doppelwesen, eine lustige Geilheit stiftete ihn zu seltsamen Stellungen und Gebärden an, zu Überraschungen und Hinterhalten; malte ihm das heitere Spiel einer Verfolgung aus, des Niederwerfens, einer schnellen Umarmung auf dem weichen Moos oder gegen den wilden Buchsbaum. Und es verlangte ihn nach einem Geschöpf, das ihm gliche, nach einer jungen Brust, der er sein Lachen mitteilen, nach behenden Beinen, nach zwei Armen, die zum Kampf bereit, nach einer Beute, die er an sich reißen, nach einer Jungfräulichkeit, die er bezwingen, nach einer Gewalttat, die er vollbringen könnte. Wieder erschien ihm Donatella mit den geschwungenen Hüften.
»Genug! Ich kann nicht mehr, Stelio ... Ich sinke um.«
Die Foscarina stieß einen Schrei aus, als sie fühlte, wie eine Hand, die durch das Strauchwerk griff, sie am Saum des Kleides zog. Sie bückte sich und sah im Schatten zwischen den Zweigen das Gesicht des lachenden Fauns. Dieses Lachen traf ihre Seele, ohne sie zu rühren, ohne den furchtbaren Bann zu brechen, der sie bedrückte. Ihre Qual verschärfte sich sogar unter dem Gegensatz zwischen dieser Heiterkeit
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