Feuer (German Edition)
unendlichen Welten unvergänglicher Schönheit einzig und allein aus einer Muskelbewegung, aus einer Andeutung, einem Wink, einem Gesichtszug, aus einem Schlagen der Augenlider, aus einer schwachen Veränderung der Farbe, einer leichten Neigung der Stirn, aus einem flüchtigen Spiel von Licht und Schatten, aus einer erstaunlich lebhaften Ausdrucksfähigkeit, die in dem gebrechlichen, schwachen Körper wohnte. Die Genien selbst der durch die Poesie geheiligten Orte schwebten über ihr und Zauberten rings um sie buntwechselnde Bilder. Die staubige Ebene von Theben, das steinige Argolis, die verdorrten Myrten von Trözen, die heiligen Ölbäume von Kolonos, der triumphierende Kydnos, das fahle Gefilde von Dunsinan, Prosperos Höhle und der Ardennenwald, blutgetränkte Länder, von Schmerzen durchwühlt, und Länder, die durch einen Traum umgewandelt oder durch ein unauslöschliches Lächeln verklärt sind, – sie alle erschienen hinter ihrem Haupt, entfernten sich wieder und schwanden. Und andere ferne Länder, neblige Gegenden, nordische Steppen, ungeheure Kontinente jenseits der Ozeane, durch die sie wie eine unerhörte Kraft inmitten der betäubten Menge geschritten war, das Wort und die Flamme vor sich hertragend, schwanden hinter ihrem Haupte; und weiter das menschliche Gewimmel samt Bergen und Strömen und Golfen und verderbten Städten, uralte, ausgestorbene Geschlechter, starke Völker, die nach der Weltherrschaft strebten; neue Geschlechter, die der Natur ihre geheimsten Kräfte entreißen, um sie in ihren eisernen und kristallnen Häusern der allmächtigen Arbeit nutzbar zu machen; die Ansiedelungen verkommener Rassen, die auf jungfräulichem Boden sich zersetzen und verfaulen; all die barbarischen Massen, denen sie wie eine erhabene Offenbarung des lateinischen Genius erschienen war, all die unbekannten Scharen, denen sie die göttliche Sprache Dantes gesprochen hatte, all die zahllosen menschlichen Herden, von denen auf einer Woge wirrer Hoffnungen und Ängste das Sehnen nach der Schönheit zu ihr aufgestiegen war. Da war sie, das Geschöpf aus hinfälligem Fleisch und Bein, den traurigen Gesetzen der Zeit unterworfen; und eine unermeßliche Fülle wirklichen und geträumten Lebens lastete auf ihr, erfüllte die Atmosphäre um sie herum, pulsierte mit dem Rhythmus ihres Atems. Denn nicht nur in der Welt der Dichtung hatte sie ihre Wehrufe ertönen lassen, ihre Seufzer erstickt, sondern auch in der Alltagswelt. Sie hatte leidenschaftlich geliebt, gekämpft, gelitten um sich selbst, um ihre Seele, um ihr Blut. Welche Art von Liebe, von Kämpfen, von Seelenschmerzen? Aus welchen Abgründen von Melancholie hatte sie die Erhabenheit ihrer tragischen Kraft gewonnen? Aus welchen Quellen von Bitternis hatte sie ihren freien Genius getränkt? Sie war ohne Zweifel Zeuge des grausamsten Elends, der düstersten Verzweiflung gewesen; sie hatte heroische Anstrengungen gekannt und Mitleid und Entsetzen und die Schwelle des Todes. All ihr Dürsten brannte in Phädras Raserei, und in Imogens Demut zitterten all ihre Zärtlichkeiten. So machten Leben und Kunst, die unwiderrufliche Vergangenheit und die endlose Gegenwart, sie tief, beseelt und geheimnisvoll; sie hoben ihre schwankenden Schicksale weit über die menschlichen Grenzen hinaus; sie machten sie zur Genossin der Tempel und Haine.
Und sie war hier, atmend, unter den Augen der Dichter, die sie einzig sahen und doch verschieden .
»Ach! ich will dich besitzen wie in einer ungeheuren Orgie; wie einen Thyrsus will ich dich schwingen; wachrütteln will ich in deinen erfahrnen Sinnen all die göttlichen und die ungeheuerlichen Dinge, die dich belasten, die vollendeten und die noch in dir gären und wachsen wie in heiliger Reifezeit –« so sprach der dichterische Dämon des Erweckers, und er erkannte in dem Mysterium des anwesenden Weibes die überlebende Kraft des primitiven Mythus, die wiedererneute Geburt der Gottheit, die alle Kräfte der Natur in einen gärenden Boden gesenkt und mit dem Umgestalten der Rhythmen Sinn und Geister der Menschen in ihrem enthusiastischen Kultus auf den Gipfel der Freude und des Schmerzes erhoben hatte. »Wie werde ich es genießen, wie werde ich es genießen, daß ich auf sie gewartet habe! Der Wechsel der Jahre, der Aufruhr der Träume, die Erregungen des Kampfes, die Schnelligkeit der Triumphe, die Unreinheit ihrer Liebe, die Bezauberung der Poeten, der jubelnde Zuruf der Völker, alle Wunder der Erde, die Langmut und die zornige
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