Feuer in eisblauen Augen
Strandweg.
Einige hatten sich für diesen Tag im Freien gut vorbereitet. Sie hatten Kühlboxen mit Getränken und Grillgeräte dabei, brutzelten Würstchen und Steaks, während sie auf ihren Decken lagerten und dem Treiben um sich herum interessiert zusahen. Fliegende Händler verkauften Popcorn, Eiskrem und Getränke. Heute war das jährlich stattfindende große Sommerfest, und viele Menschen waren hierher gekommen, um ausgelassen mitzufeiern.
Aber obwohl die Stimmung so gut war und Annies Clownsgesicht ein strahlendes Lächeln zeigte, war sie doch sehr traurig. Das Herz war ihr schwer, denn in zwei Tagen würde sie auf ihre lang ersehnte Reise gehen.
Sie hätte sich freuen und die günstige Gelegenheit nutzen sollen, um an den Japanern und Chinesen, die sie in der Menge entdeckte, ihre Sprachkenntnisse zu erproben. Aber sie brachte weder die Lust noch die Energie dazu auf. Und wozu auch? In einigen Tagen würde sie sowieso in Fernost sein und dort ausreichend Gelegenheit haben, das Gelernte anzuwenden.
Annie schob die Manschette ihrer Clownsjacke hoch und sah auf die Uhr. Nur noch fünfzehn Minuten, dann würde sie auftreten.
Sie würde auf der Bühne stehen und die Menschen zum Lachen bringen, auch wenn sie selbst tieftraurig war. Annie schlurfte in ihren riesigen Schuhen bedächtig am Rande der Menge vorbei, zur Bühne, wo ihr Auftritt stattfinden würde.
Im Augenblick spielte noch eine bekannte irische Musikgruppe. Die Zuhörer waren in ausgelassener Stimmung. Sie schrien und klatschten begeistert mit, und einige tanzten sogar.
Annie fluchte leise. Sie war wütend auf die Programmgestalter. Es würde ihr nicht gelingen, nach dieser spektakulären Musik die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen. Ihr Mut hatte sie verlassen, und am liebsten wäre sie in den Boden versunken.
Bisher hätte sie so etwas niemals erschüttern können. Auch wenn sie Bühnenangst hatte und manchmal an ihrem Können zweifelte, so siegte doch am Ende immer ihr Optimismus und sie lief zur Höchstform auf. Heute würde das nicht so sein, denn sie fühlte sich ohne jeden Schwung.
Ihr Herz war so schwer. Wie konnte sie da lustig und unbeschwert sein? Sie hatte Emily und Mark verlassen, und die beiden waren jetzt ebenso traurig wie sie.
Das letzte Stück hatte einen atemberaubenden Rhythmus. Selbst Annie wurde von der Musik mitgerissen. Da ein paar Zuhörer sich schon neugierig nach ihr umgesehen hatten, besann Annie sich auf ihre Aufgabe. Sie trug ihr Kostüm, sie war jetzt ein Clown und musste sich auch so verhalten. Sie stampfte mit ihren großen Schuhen begeistert zur Musik, nickte mit dem Kopf, sodass die Rose, die wie immer an ihrem Jackenaufschlag steckte, sich heftig bewegte und sie in der Nase kitzelte.
Als Annies Auftritt angesagt wurde, stieg sie die Stufen zur Bühne hoch und zog ihren Koffer hinter sich her.
Im Hintergrund packten die Musiker noch ihre Instrumente zusammen. Annie hatte sich überlegt, ihren Auftritt mit einer Pantomime einzuleiten und mit ihrem eigentlichen Programm erst später, wenn die Bühne ganz frei war, zu beginnen.
Annie starrte in die erwartungsvollen Gesichter. Sie lachte, ging ans Mikrofon und rief mit ihrer schrillen Bühnenstimme: “Es ist heiß hier, findet ihr nicht auch? Oder bin ich vielleicht so heiß?”
Einige Zuhörer lachten und warteten darauf, dass sie fortfuhr, ihre Witze vorzutragen. Entsetzen erfasste Annie. Was war heute nur mit ihr los? Ihr fiel kein einziger Satz mehr ein. Sonst sprudelten sie nur so aus ihr heraus.
In ihrem Gehirn herrschte absolute Leere. Ebenso öde schien sich ihre Zukunft vor ihr zu erstrecken.
Ihre Angst vor tiefen Bindungen ließ sie vor der Liebe weglaufen. Die beiden Menschen, die sie in den vergangenen Wochen so lieb gewonnen hatte, würden verletzt zurückbleiben. Dabei sehnte sie sich in ihrem tiefsten Inneren danach, für immer mit Mark und Emily zusammenzubleiben.
Ihr Schweigen fiel langsam auf, und einige Zuschauer wurden schon unruhig. Annie sah beschämt auf ihre großen Schuhe, und plötzlich kam ihr eine Idee. Sie hob einen Fuß hoch, bewegte ihn wie einen Fächer ganz schnell hin und her, um sich damit Luft zuzufächeln. So hopste sie fast eine Minute über die Bühne, immer in der Hoffnung, dass ihr gleich ihre Witze wieder einfielen. Vergebens. So etwas war ihr in all den Jahren ihrer Bühnenlaufbahn noch niemals passiert. Annie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
Als sie kurz aufschaute, sah sie eine kleine Gruppe über die
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