Feuer: Roman (German Edition)
Will eine Flasche Beck's. Die Mühe, ein Bierglas mitzubringen, hatte er sich nicht gemacht. Will nahm die Flasche entgegen, trank jedoch nicht, sondern drehte sie nur nachdenklich in den Händen. Mit der freien Hand fuhr er sich über die Stirn und fühlte das, was er vorhin im Spiegel gesehen hatte: Wo seine Augenbrauen sein sollten, waren nur Stoppeln, und sein Haaransatz schien ein gutes Stück die Stirn hinaufgerutscht zu sein. So ungern er es zugab: Georg hatte Recht. Es würde mindestens zwei oder drei Tage dauern, bis er sich wieder unter Menschen trauen konnte, ohne wie ein bunter Hund aufzufallen.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Georg: »Unter alten Freunden gestattest du mir doch bestimmt ein offenes Wort?« Will nickte.
»Du siehst aus wie ausgekotzt«, sagte Georg. »Wenn du ausgetrunken hast, bringt Fred dich nach oben, und ich lasse dir ein paar neue Klamotten besorgen.«
»So gute Freunde sind wir nun auch wieder nicht«, antwortete Will mit einem säuerlichen Grinsen. »Ich nehme es mit nach oben, wenn du nichts dagegen hast.«
Georg zuckte andeutungsweise mit den Schultern. »Wenn du keinen Wert auf unsere Gesellschaft legst …«
Als er aufstand, klingelte das Telefon. Georg rührte keinen Finger, um abzuheben, aber Will beobachtete, wie sein Blick rasch über das Display huschte und er offenbar die Nummer des Anrufers erkannte. Er tat so, als hätte er Georgs verräterischen Blick nicht bemerkt, klemmte sich den Hals der Bierflasche zwischen Daumen und Ringfinger der linken Hand und drehte sich herum, um Rattengesicht zu folgen. Er widerstand der Versuchung, sich in der Tür noch einmal zu Georg herumzudrehen, aber er konnte seine bohrenden Blicke regelrecht zwischen den Schulterblättern spüren.
Fred begleitete ihn nicht nur nach oben, er überholte ihn auf der Treppe und machte zwei schnelle Schritte, um als Erster die Tür zu erreichen. Mit übertriebener Gestik hielt er sie auf, betrachtete dann stirnrunzelnd das Schloss und warf Will einen strafenden Blick zu, als der an ihm vorbei in das winzige Bordellzimmer ging, das nun auch ganz offiziell zu seinem Gefängnis geworden war. »Georg hat Recht«, sagte er. »Die Schlösser gehören wirklich langsam ausgetauscht.«
»Du kannst die Tür ja von außen vernageln, wenn es dir lieber ist«, sagte Will.
Freds Blick wurde noch strafender, aber er wirkte nicht wirklich wütend, allerhöchstens ein bisschen verwirrt. Nach einer Sekunde zuckte er mit den Schultern und drehte sich mit der Hand auf der Türklinke herum, um zu gehen und die Tür hinter sich zu schließen.
»Warte!«, sagte Will rasch.
Fred blieb stehen. Er sagte nichts, aber jetzt wirkte er eindeutig ungehalten, und Will fragte sich, was er und die beiden anderen vorhin unten in Georgs Büro besprochen hatten. Vielleicht war sein Urteil vorschnell, schon weil er Fred nicht kannte und seine Reaktionen überhaupt nicht einschätzen konnte, aber er behandelte ihn nicht wie einen Gast; nicht einmal wie einen ungebetenen.
»Sag Georg, dass ich einen Wagen brauche«, sagte er.
»Wozu?«, wollte Fred wissen.
Die Antwort, die Will auf der Zunge lag, schluckte er vorsichtshalber herunter. »Ich muss ein paar Dinge erledigen«, sagte er stattdessen.
Fred schien einen Moment lang ernsthaft über diese Antwort nachdenken zu müssen, dann antwortete er so, wie er anscheinend auf alles reagierte, nämlich mit einem Achselzucken, und schloss die Tür.
Für einen Moment wartete Will auf das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte, aber vergeblich. Er blieb reglos stehen, wo er war, zählte in Gedanken langsam bis zwanzig und ging dann ebenfalls zur Tür. Dort wartete er noch einmal gute zehn Sekunden, bevor er die Klinke herunterdrückte und behutsam öffnete. Er wäre nicht überrascht gewesen, Fred mit einem breiten Grinsen draußen auf dem Flur stehen zu sehen, aber der schummrige Korridor war leer, und auch vom unteren Ende der Treppe drangen jetzt keine Stimmen mehr herauf. Will überlegte angestrengt, was er tun sollte. Er hätte gar nicht erst herkommen sollen. Wohin aber sollte er gehen? Dass er offensichtlich für den Rest dieser Stadt als tot galt, beruhigte ihn keineswegs, und es half ihm auch nicht wirklich, ganz im Gegenteil. Sein Bild war heute öfter und ausführlicher im Fernsehen gewesen als das des Bundeskanzlers, und andere Kleider und ein Bart könnten daran auch nichts ändern. Aber vielleicht würde ein wenig Maskerade wenigstens dazu
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