Feuer und Glas - Der Pakt
vergeuden! Wir können jeden Vorsprung gebrauchen.«
Sie waren kaum ein paar Schritte weiter, da überfiel Milla ein seltsames Gefühl.
Wurden sie verfolgt?
Im Gehen schaute sie über die Schulter. Doch hinter ihnen waren nur ein paar Männer mit Handkarren, in denen Scheite lagen, sowie ein weiterer, der einen schweren Balken schleppte. Alles ganz alltäglich, und dennoch wurde sie das ungute Gefühl, jemand sei ihnen auf den Fersen, nicht los.
»Sie wissen, dass wir da sind«, sagte Ysa grimmig. »Sie haben niemals aufgehört, uns zu beobachten.«
»Wer sind diese ›sie‹?«
»Die Unsrigen, was sonst! Manchmal wünschte ich, wir wären keine Feuerleute. Das würde manches einfacher machen.«
Sie gingen weiter, entlang am breitesten Kanal der Insel, der wie sein großer venezianischer Bruder Canal Grande hieß. Aus den offenen Türen drang das Brummen der Öfen, die niemals ausgehen durften, das Zischen der Glaspfeifen, das Klappern von Werkzeugen. In Schichten von jeweils sechs Stunden wurde Tag und Nacht durchgearbeitet, bis auf die gesetzlich vorgeschriebene Sperrzeit von September bis Januar, in der alle Glashütten geschlossen waren. Ein Rudel streunender Katzen folgte ihnen bis zur Brücke, doch da die beiden Besucherinnen nichts zu fressen anzubieten hatten, verloren die Tiere bald das Interesse und zerstreuten sich.
Je näher sie dem roten Haus kamen, nahe der Kirche Santa Maria e Donato gelegen, desto beklommener wurde Milla zumute. Was würde sie dort erwarten? Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sich mit schönen Erinnerungen zu begnügen!
Dann öffnete sich plötzlich die Tür, und ein kleines Mädchen mit dunklen Locken lief auf sie zu. Eine schwangere Frau setzte ihr schwerfällig nach.
»Willst du wohl hierbleiben, Ceci!«
Als sie Milla erkannte, errötete die Frau, hob die Hand und strich sich eine helle Strähne hinters Ohr. Ihre Verlegenheit war unübersehbar, während die Kleine mit blanken Augen und ganz unbefangen zu ihnen aufschaute.
»Winterstürme haben vielen Häusern schwer zugesetzt«, sagte sie rasch und sah Milla um Verständnis heischend an. »Unseres war eines der ersten, die daran glauben mussten. Das Meer hat uns überspült, als wollte es die ganze Insel verschlingen. Deshalb hat die scuola beschlossen , dass jeder freie Raum sinnvoll genutzt werden soll. Domenico, die Kleine und ich leben in eurem früheren Zuhause. Und wie du siehst, werden wir ja bald zu viert sein.«
»Ich weiß, Rosa«, sagte Ysa. »Man hat mir bereits davon erzählt, und ich begrüße diese Entscheidung.«
Millas Mund wurde noch trockener.
Fremde Leute in ihrem Haus! Kein Wort hatte ihr Ysa davon verraten – sonst wäre sie womöglich gar nicht nach Murano aufgebrochen.
»Heimweh hat meine Nichte hergetrieben«, fuhr Ysa fort. »So lange liegt sie mir damit schon in den Ohren! Deshalb sind wir heute hier.«
Nicht ganz die Wahrheit, doch Milla entschied sich, zu schweigen.
»Schaut euch nur in Ruhe um!«, rief Rosa bereitwillig. »Wir sind überglücklich, dass wir hier unterkommen durften. Ich habe Zitronenlimonade gemacht – bedient euch!«
Sie folgten ihr ins Haus.
Ysa ließ sich in der niedrigen Stube einen Becher des erfrischenden Getränks einschenken, während Milla durch die offene Tür in den Garten spähte. Kräuterbeete und Rosenstöcke waren mit einer körnigen weißlichen Schicht bedeckt, als holte sich das Meer zurück, was Menschenhand ihm abgetrotzt hatte. Dann fiel ihr Blick auf die verwitterten Pfosten, die ihr Vater damals tief in den Boden gerammt hatte, weil Bäume auf dem salzigen Grund nicht richtig gedeihen wollten. An jedem war ein dickes Seil verknotet, verbunden durch ein schmales Holzbrett – ihre heiß geliebte Schaukel!
Als Cecilia darauf kletterte und sich mit den Füßen kräftig abstieß, um ganz hoch, so hoch wie nur möglich zu fliegen, musste Milla wegschauen, weil es zu sehr wehtat.
Schnell wandte sie sich ab und lief die Treppe hinauf.
Ihr einstiges Zimmer erschien ihr ganz verändert. Zwar gab es noch immer die Bettstatt, die Truhe, den niedrigen Tisch, unter den ihre Beine schon lange nicht mehr gepasst hatten, sowie die beiden abgesplitterten Hocker. Aber auf dem Boden lagen bunte Stoffpuppen, wie kleine Kinder sie liebten, und ein paar Muscheln, die Ceci offenbar gesammelt hatte.
Alte Erinnerungen wurden wieder lebendig, überspülten Milla regelrecht.
Hier hatte sie oft gespielt, bis ihr Vater endlich aus der Werkstatt nach Hause kam
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