Feuer Und Stein
wenig angetan war, diesen Eindruck zu zerstreuen, auch wenn es nicht viele Schinken gab, die mit strahlendblauen Augen aufwarten konnten. Langsam und bedächtig blätterte er durch den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch.
»Ah, ja«, sagte er, nachdem er endlos lange gebraucht hatte, sich mit dem Inhalt der vorliegenden Akte vertraut zu machen. »Fraser, James. Zum Strang verurteilt wegen Mordes. Und wo ist der Vollstreckungsbefehl?« Kurzsichtig wühlte er im Stapel herum. Krampfhaft umklammerte ich mein seidenes Handtäschchen und bemühte mich, keine Miene zu verziehen.
»Da haben wir’s ja. Vollstreckung am 23. Dezember. Ja, er ist noch hier.«
Ich schluckte und lockerte meinen Griff. Ich durfte nicht zeigen, daß ich zwischen Panik und Freude hin und her gerissen war. Er lebte also noch. Aber nur noch zwei Tage. Er war in meiner Nähe, irgendwo in diesem Gebäude. Dieser Gedanke löste einen Adrenalinstoß aus, und meine Hände zitterten.
Ich rutschte auf dem Besucherstuhl nach vorne und bemühte mich, möglichst einnehmend auszusehen.
»Dürfte ich ihn sehen, Sir Fletcher? Nur ganz kurz; es könnte ja sein, daß er seiner Familie noch eine letzte Botschaft übermitteln möchte.« Ich hatte mich als englische Freundin der Frasers ausgegeben, und so war es einigermaßen leicht gewesen, in Wentworth eingelassen zu werden und bei Sir Fletcher, dem zivilen Gouverneur
des Gefängnisses, vorsprechen zu dürfen. Jamie zu besuchen, war jedoch ein gefährliches Unterfangen. Da er von meiner Geschichte nichts wußte, konnte es leicht sein, daß er mich verriet, wenn er mir plötzlich und ohne Vorwarnung gegenüberstehen würde. Und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich die Selbstbeherrschung würde bewahren können. Aber wir mußten unbedingt herausfinden, wo er war; in diesem riesigen Labyrinth war die Aussicht, ihn durch Zufall zu entdecken, gleich Null.
Sir Fletcher runzelte die Stirn und dachte nach. Es war offensichtlich, daß er diese Bitte, noch dazu von einer bloßen Bekannten geäußert, höchst lästig fand, aber er war kein gefühlloser Mann. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Nein, meine Liebe. Zu meinem Bedauern kann ich das nicht zulassen. Wir sind derzeit recht überfüllt und haben keinen Platz für derartige private Zusammenkünfte. Und der Mann befindet sich gegenwärtig« - er suchte mit dem Zeigefinger in der Akte herum -, »in einer der großen Zellen im Westflügel zusammen mit anderen Schwerverbrechern. Ich kann sie dort nicht hineinlassen, es wäre unverantwortlich. Außerdem ist der Mann gefährlich. In den Akten ist vermerkt, daß wir ihn seit seiner Ankunft in Ketten gelegt haben.«
Wieder umklammerte ich meine Handtasche, diesmal um sie ihm nicht um die Ohren zu schlagen.
Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Wenn Sie eine direkte Verwandte wären, vielleicht…« Er schaute mich blinzelnd an. Ich biß die Zähne zusammen, fest entschlossen, mich nicht zu verraten.
»Aber vielleicht, meine Liebe…« Plötzlich schien ihm ein Geistesblitz gekommen zu sein. Schwerfällig erhob er sich, begab sich zu einer Seitentür und murmelte dem uniformierten Soldaten, der dort Wache hielt, etwas zu. Der Soldat nickte und verschwand.
Sir Fletcher kam mit einer Weinkaraffe und zwei Gläsern zurück. Ich nahm sein Angebot an; einen Schluck Wein konnte ich jetzt wirklich brauchen.
Wir waren beide beim zweiten Glas, als die Wache zurückkam. Der Soldat marschierte ohne Aufforderung herein, stellte ein Holzkästchen auf den Tisch und drehte sich um, um wieder hinauszumarschieren. Sein Blick blieb übermäßig lange an mir haften, und ich senkte artig die Lider. Ich trug ein Kleid, das ich von einer
Dame aus Ruperts Bekanntschaft in der benachbarten Stadt geliehen hatte, und aus dem Duft, mit dem es durchtränkt war, konnte ich unschwer erraten, welchem Beruf diese Dame nachging. Ich hoffte nur, daß der Wachsoldat das Kleid nicht erkannt hatte.
Sir Fletcher leerte sein Glas, stellte es ab und wandte sich dem Kästchen zu. Es war aus einfachem, unlackiertem Holz und hatte einen Schiebedeckel. Mit Kreide waren Buchstaben darauf geschrieben: F-R-A-S-E-R.
Sir Fletcher zog den Deckel zurück, schaute kurz hinein, schloß ihn wieder und schob das Kästchen zu mir.
»Die persönlichen Habseligkeiten des Gefangenen«, erklärte er. »Üblicherweise schicken wir sie nach der Hinrichtung an den nächsten Verwandten. Aber dieser Mann« - er schüttelte den Kopf -, »weigert sich, auch nur
Weitere Kostenlose Bücher