Feuer Und Stein
wägte meine Worte sorgfältig ab. »Wenn ich wüßte, daß einer Gruppe von Menschen Schaden droht, müßte ich dann versuchen, den Schaden abzuwenden?«
Anselm wischte sich die Nase, die in der Wärme zu laufen begann, nachdenklich ab.
»Im Prinzip ja. Aber es würde noch von einer Reihe anderer Dinge abhängen - was für ein Risiko gehen Sie dabei selbst ein, und welche anderen Verpflichtungen haben Sie? Auch fragt sich, welche Erfolgsaussichten bestehen.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Bis auf die Verpflichtungen - ich meine, ich muß an Jamie denken. Aber er gehört zu dieser Gruppe, der Schaden droht.«
Er brach ein Stück Gebäck ab und schob es mir zu. Ich achtete nicht darauf, sondern befaßte mich mit meinem Bier. »Die zwei
Männer, die ich getötet habe, hätten beide Kinder haben können, wenn ich sie nicht umgebracht hätte. Vielleicht hätten sie« - ich machte eine hilflose Bewegung mit meinem Becher -, »wer weiß, was sie getan hätten. Vielleicht habe ich die Zukunft verändert… nein, ich habe sie bestimmt verändert. Und ich weiß nicht, wie, und das macht mir angst.«
»Hm.« Anselm brummte nachdenklich und winkte einem Laienbruder, der uns sogleich mit frischem Bier und Gebäck versorgte. Anselm füllte beide Becher, bevor er antwortete.
»Sie haben Leben genommen, aber Sie haben auch Leben bewahrt. Wie viele Verwundete, die Sie behandelt haben, wären ohne Ihr Zutun gestorben? Auch das beeinflußt die Zukunft. Was, wenn eine Person, die Sie gerettet haben, Böses tut? Ist das Ihre Schuld? Hätten Sie diese Person deswegen sterben lassen sollen? Natürlich nicht.« Zur Bekräftigung knallte er seinen Zinnbecher auf den Tisch.
»Sie sagen, daß Sie Angst haben, etwas zu unternehmen, weil das die Zukunft beeinflussen könnte. Das ist unlogisch, Madame. Jede Handlung beeinflußt die Zukunft. Wären Sie in Ihrer Zeit geblieben, dann hätten Ihre Taten dort das zukünftige Geschehen genauso mitbestimmt wie hier. Sie tragen hier dieselbe Verantwortung wie dort. Der einzige Unterschied besteht darin, daß Sie vielleicht in der Lage sind, die Wirkungen Ihrer Handlungen klarer zu sehen - aber vielleicht auch nicht.« Er schüttelte den Kopf und blickte ruhig über den Tisch.
»Die Wege des Herrn sind unerforschlich, und gewiß aus gutem Grund. Sie haben recht, ma chère , die Gesetze der Kirche wurden nicht für eine Situation wie die Ihre gemacht, und deswegen haben Sie kaum eine andere Möglichkeit, als sich nach Ihrem eigenen Gewissen zu richten und sich von Gottes Hand führen zu lassen. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun oder lassen sollen.
Sie können sich frei entscheiden, wie alle Menschen auf dieser Welt. Und Geschichte ist, wie ich glaube, die Summe aller Handlungen. Manche sind von Gott auserwählt, das Schicksal von vielen zu bestimmen. Vielleicht sind Sie eine davon. Vielleicht nicht. Ich weiß nicht, warum Sie hier sind. Sie wissen es nicht. Wahrscheinlich werden wir es beide niemals wissen.« Er rollte zum Spaß mit den Augen. »Manchmal weiß ich nicht einmal, warum ich hier bin!« Ich lachte, und er lächelte zurück. Er lehnte sich über die rauhen Bretter des Tisches zu mir und sagte mit Nachdruck:
»Ihr Wissen um die Zukunft ist ein Werkzeug, das Ihnen in die Hände gefallen ist wie einem Schiffbrüchigen eine Angel. Es ist nicht unmoralisch, davon Gebrauch zu machen, solange Sie in Übereinstimmung mit den göttlichen Gesetzen und nach bestem Wissen und Gewissen handeln.«
Er hielt inne und atmete mit einem heftigen Seufzer aus, der seinen seidigen Schnurrbart kräuselte. Er lächelte.
»Und das, ma chère madame , ist alles, was ich Ihnen raten kann - mehr kann ich einer bekümmerten Seele, die bei mir Rat sucht, nicht sagen: Vertraue Gott und bete darum, daß er dich führt.«
Er schob mir das frische Gebäck zu.
»Aber was immer Sie tun werden, Sie brauchen dafür Kraft. Nehmen Sie also einen letzten kleinen Rat von mir an: Wenn Sie Zweifel haben, dann essen Sie.«
Als ich abends in Jamies Zimmer kam, schlief er mit dem Kopf auf den Unterarmen. Die leere Suppenschale stand ordentlich auf dem Tablett, neben einem Teller mit Brot und Fleisch. Ich blickte von der unschuldig träumenden Gestalt zum Teller und wieder zurück.
Ich ließ ihn schlafen und machte mich auf die Suche nach Bruder Roger, den ich in der Vorratskammer fand.
»Hat er von dem Brot und dem Fleisch gegessen?« fragte ich ohne Umschweife.
Bruder Roger lächelte in seinen
Weitere Kostenlose Bücher