Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
Ihre alten Augen mustern Josie viel zu wissend, als dass deren Fassade noch halten könnte. Die Anspannung der letzten Stunden – möglicherweise existiert die ja auch schon seit einigen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten – bricht sich ihren Bann und treibt die Tränen an die Oberfläche. Und sie erzählt alles. Nun ja, in Wahrheit ist es nicht viel, denn was genau das Problem ist, weiß sie ja nicht!
Nicht wirklich.
Was sie sagen kann ist, dass es ihm schlecht geht. Sehr schlecht. Und das klingt in ihren Ohren verdammt dämlich.
Doch Gail scheint das nicht sehr dämlich zu finden, denn sie mustert ihre Nachfolgerin für eine Weile, schenkt ihnen beiden dann einen Kaffee ein und setzt sich mit ihr auf die Couch, die eigentlich für Besucher bestimmt ist.
»Hier, trink Mädchen.«
Es benötigt einen langen Moment, bis Josie sich beruhigen kann. Und Gail lässt ihr diese Zeit. Erst als das Schluchzen weitestgehend verklungen ist, hebt sie an.
»Ich kenne Andrew seit vielen Jahren« Sie spricht seinen Vornamen so liebevoll und vertraut aus, dass Josie ihr sofort glaubt. Für eine Weile starrt sie in Gedanken verloren vor sich hin. »Ich nahm meine Tätigkeit im Vorzimmer seines Vaters auf, als er sieben war«, fährt sie schließlich fort. »Er war so ein hübscher Junge, aber ständig ernst. Verschlossen. Niemals ein Lachen. Egal was ich versuchte, es gelang mir nicht einmal, ihm ein Lächeln entlocken. Er wirkte immer so ...« Sie runzelt die Stirn, sucht nach dem geeigneten Wort, »... konzentriert. So alt. Sein Dad ist ein berühmter Gehirnchirurg. Ein außergewöhnlich netter und intelligenter Mann. Allerdings sah ich immer die Sorge, wenn er seinen Sohn betrachtete.
»Du musst wissen, dass Sarah Norton seine zweite Frau ist. Die erste – Elizabeth – starb, als Andrew vier Jahre alt war. Ich kenne die genauen Umstände ihres Todes nicht, doch ich nehme an, dass der Kleine unter diesem Verlust wohl sehr gelitten haben muss.«
Wieder überlegt sie und Josie fragt sich unbehaglich, ob sie mit ihrem Urteil über Gails Klatschleidenschaft vielleicht etwas voreilig gewesen ist.
»Mit den Jahren gelang es mir, ein wenig zu Andrew durchzudringen. Nichts Großartiges. Ich hatte immer den Eindruck, dass er nur eine Person wirklich abgöttisch liebt und das ist sein Vater. Doch er schien zu mir Vertrauen zu fassen, wechselte hin und wieder einige Worte mit mir – höflich, reserviert, sicher – aber er sprach . Und jeder, der diesen kleinen ernsten Jungen mit dem traurigen Blick kennenlernte, der musste ihn gern haben. Ich mochte ihn sogar sehr ...«
Wie gebannt hängt Josie an dem alten Gesicht, aus dem soeben eine Träne entfernt wird.
»Entschuldigung«, murmelt Gail mit belegter Stimme und holt ein Taschentuch aus der Tasche ihres Jacketts. »Er brachte stets die besten Noten nach Hause«, berichtet sie weiter, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. »Und als er zu studieren begann, waren es auch dort immer die höchsten Grade. Niemals versagte er, niemals beging er einen Fehler oder sorgte dafür, dass sein Vater Kummer seinetwegen hatte. Er war wie eine Maschine, verstehst du, was ich meine?«
Josie nickt, obwohl sie in Wahrheit überhaupt nichts versteht. Alles, was sie vor sich sieht, ist ein hübscher kleiner Junge mit braunen Augen, der nie lacht …
»Dann begann er zu arbeiten. Und das genau so ehrgeizig, fast besessen. Er machte das möglich, was noch niemandem in diesem Alter gelungen ist. Er schaffte es aus dem Nichts, nur mit seinem Collegediplom, hinauf an die Spitze. Und das innerhalb von drei Jahren.« Sie schüttelt ihren Kopf. »Das ist beinahe unmöglich, wie du dir sicher denken kannst.«
Wenigstens das erscheint Josie plausibel und sie nickt erneut.
»Als er diese Firma übernahm, war sein Vater dabei, nach New York zu gehen. Man hatte ihm dort eine Stelle als Chefarzt der Gehirnchirurgie angeboten, die er unmöglich ablehnen konnte ...«
»Ich dachte, seine Familie lebt hier in Tampa?«, geht Josie dazwischen.
Gail nickt heftig. »Stephen wollte ihnen nicht zumuten, ihn zu begleiten. Er pendelt seitdem zwischen New York und Florida hin und her. Andrews jüngere Schwestern waren noch in der Schule oder am College, Sarah hat ihr Architekturbüro. Und vor allem hätte das bedeutet, Andrew alleinzulassen. Und das wollten weder Stephen noch Sarah. Sie haben sich immer große Sorgen um ihn gemacht, musst du wissen.«
Josie nickt geistesabwesend und speichert
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