Feuer und Wasser (Urteil: Leben!) (German Edition)
ignoriert auch das.
»Andrew hat sich noch nie einen Nachmittag freigenommen, nicht mal als Kind. Er nahm niemals jemanden zu einem seiner Geschäftstermine mit, schon gar nicht zu Mr. Dearinger. Alles, was er in dieser Woche getan hat, machte er nie zuvor. Und glaube mir, ich kenne ihn gut. Dieser Blick, als du am Mittwochmorgen nicht da warst ...«
Josies Augen werden groß. »Was ...?«
»Er hat nicht einmal die Tür geschlossen, Schätzchen«, wispert Gail. »Ich weiß nicht, aus welchen Gründen du nicht kamst, aber ihn hat es tief getroffen. Und damit komme ich zu dem, was ich dir eigentlich sagen möchte. Es geht mich nichts an, doch er ist immer wie ein Sohn für mich gewesen. Ich habe keine eigenen Kinder und er liegt mir sehr am Herzen ...«
»Mir auch!« Es klingt etwas schnippisch.
Geistesabwesend nickt Gail und nimmt Josies Hand, die sich für einen wirren Moment so fühlt, als würde sie ihrer Grandma gegenübersitzen. »Schätzchen, ich weiß. Und er liebt dich. Wenn ich eines mit Bestimmtheit behaupten kann, dann das. Doch ich werde mir jetzt zum ersten Mal seit dreißig Jahren den Mund verbrennen. Also wenn du mich bei ihm verraten willst, nehme ich dir das nicht einmal übel ...«
»Ich petze nicht!«
Der Druck ihrer Hand verstärkt sich. »Höre mir erst zu und entscheide dann. Nächsten Freitag ist mein letzter Arbeitstag und will die Dinge geordnet zurücklassen.« Sie seufzt. »Bis vor ein paar Tagen sah auch alles danach aus, dass dies kein Problem werden würde.«
Gail starrt für einige Sekunden in ihre Kaffeetasse und schaut schließlich auf. »Du musst aufpassen! Ich weiß nicht, was gestern zwischen euch beiden vorgefallen ist, doch es hat ihm Angst gemacht. Und ich kann dir versichern, dass Mr. Brute im Normalfall nichts fürchtet! Er liebt dich mehr als alles andere, ich würde sogar behaupten, mehr als seine Familie. Du bist die Erste und er ist auch sonst nicht wie jeder x–beliebige Mann. Du wirst stark sein müssen, wenn du es mit ihm schaffen willst. Du musst dich um ihn kümmern.« Eindringlich mustert sie Josie. »Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche?«
»Mir ist klar, dass er mich braucht.« Das klingt in Josies Ohren noch dämlicher, doch für Gail scheint es das nicht zu sein, denn die nickt beifällig.
»Ja, Schätzchen. Doch es wird komplizierter werden, als du denkst.« Stöhnend verdreht sie die Augen. »Himmel, ich hätte niemals angenommen, dass das so schwierig werden würde ...« Sie holte tief Luft. »Was auch immer geschehen ist, er hat Angst. Und das ist nicht gut. Wir passen zwar auf ihn auf, aber das ist nicht sehr einfach, verstehst du? Er lässt niemanden an sich heran. Jahrelang habe ich versucht, Stephen zu überzeugen, und ich versuche es noch einmal bei dir, weil ich Andrew liebe und weil du so unglaublich jung bist.« Wieder beginnt sie leise zu weinen. »Das ist so eine große Last ...«
»Wovon reden Sie denn?«
Gail putzt sich die Nase. »Er braucht Hilfe!« Eindringlich betrachtet sie das Mädchen. »Verstehst du, was ich damit ausdrücken will? Er braucht Hilfe!«
»Ich denke, das weiß ich bereits«, wirft das Mädchen leise ein.
»Nein, du weißt es noch nicht, doch das wirst du irgendwann. Vergiss meine Worte nicht. Behalte sie in Erinnerung und wenn der Zeitpunkt heran ist, wirst du erkennen, was ich meine.« Und nach einem letzten bekümmerten Blick tut Gail etwas tatsächlich Überraschendes. Sie lässt die Hand der jüngeren Frau los und streichelt deren Wange. »Jahrelang habe ich darauf gewartet. Aber so jung ...«
Dann schüttelt sie abrupt den Kopf und deutet auf Josies Tasse. »Trink aus, Schätzchen. Wir müssen schließlich so tun, als würden wir arbeiten.«
Siamesische Zwillinge
D ie erste große, scheinbar unüberwindliche Hürde offenbart sich als der Übergang zu Andrews Büro.
Die Schwelle markiert den Scheideweg: spektakuläre Trennung der siamesischen Zwillinge. Es kostet ihn alles, sie loszulassen und noch ein wenig mehr, die Tür zu schließen. Dabei kann ihr hier nichts geschehen, zumindest redet er sich das tapfer ein. Leider lässt der Erfolg bisher auf sich warten und sendet derweil einige hübsche Szenarien, die drohen, Andrew den sprichwörtlichen Rest zu geben. Was wenn sie aus heiterem Himmel versucht, zu gehen? Was wenn sie wieder dieser Fluchtimpuls überkommt? Wie lange wird Gail benötigen, um ihn zu informieren? Wie viel Zeit wird Josie brauchen, um es hinunter in die Lobby und aus dem
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