Feuereifer
ihre beiden kleinen Jungen an sich und blickte starr nach vorne.
Sie sah erschütternd verändert aus. Ich hatte sie bislang nur zurechtgemacht erlebt, und auch als sie wütend auf mich gewesen war, hatte sie noch lebhaft gewirkt. Heute dagegen schien sie nicht einmal ihre Haare gekämmt zu haben und saß reglos da, in sich zusammengesunken. Der Verlust von Fly the Flag war eine Katastrophe für sie. Die Kinder, die für Jesus marschierten oder vielmehr stampften, hatten ihre Aufführung beendet und ließen sich auf Klappstühlen vor dem Chor nieder. Darauf erhob sich der Mann mit dem wackelnden Kopf und sprach mit zittriger Stimme auf Spanisch ein langes Gebet, das durch dramatische Akkorde seitens des Harmoniums und Amen-Rufe seitens der Gemeinde akzentuiert wurde. Obwohl er ins Mikro sprach, war seine Stimme so schwach, dass ich nur ab und an ein Wort verstehen konnte. Als er sich schließlich setzte, gab es eine weitere Hymne, dann wanderten zwei Frauen mit Spendenkörben durch die Reihen.
Ich legte einen Zwanziger hinein, und die Frauen blickten mich erschrocken an. »Wir können nicht gleich rausgeben«, sagte die eine besorgt. »Haben Sie Vertrauen bis zum Ende des Gottesdiensts?«
»Rausgeben?«, fragte ich erstaunt. »Sie müssen mir nichts rausgeben.« Sie ergingen sich in langen Dankesbezeugungen. Die Frau im schwarzen Kostüm vor mir drehte sich um und gab dann die Nachricht wiederum an die Umsitzenden weiter, worauf ich rot anlief. Ich hatte nicht großspurig sein wollen, sondern mir einfach nicht klargemacht, wie arm die Leute hier waren. Vielleicht hatten alle Recht, die behaupteten, dass ich keine Ahnung mehr hätte von der South Side. Nach der Spendensammlung und einem weiteren Lied begann Pastor Andres mit seiner Predigt. Er sprach Spanisch, aber so langsam und deutlich, dass ich viel verstehen konnte. Aus der Bibel trug er einen Abschnitt über den Arbeiter vor, der seinen Lohn verdient hat - ich verstand die Worte digno und su salario und schlussfolgerte, dass obrero demnach wohl Arbeiter hieß; das Wort kannte ich nicht. Danach sprach er über kriminelle Elemente unter uns, die uns Jobs wegnahmen und unsere Fabriken zerstörten. Ich nahm an, dass er damit auf Fly the Flag anspielte. Das Harmonium gab einen hämmernden Rhythmus als Untermalung von sich, was das Verstehen erschwerte, aber ich mutmaßte, dass Pastor Andres den Menschen Mut machen wollte, denen die Kriminellen en nuestro medio Schaden zugefügt hatten.
Mut, ja, den brauchte man wohl, um sich vom Elend in dieser Gemeinde nicht unterkriegen zu lassen. Aber Rose Dorrado verfügte über Mut - was ihr fehlte, war Arbeit. Als ich mir vorstellte, was alles auf ihr lastete - die vielen Kinder, und nun gab es die Fabrik nicht mehr -, sank ich förmlich in mich zusammen. Die Leute nahmen lebhaft teil an der Predigt, riefen häufig »Amen« oder »Si, Senor«. Zunächst dachte ich, sie wollten damit Pastor Andres beipflichten, bis mir klar wurde, dass sie zu Gott sprachen. Einige standen in den Reihen oder sprangen in den Gang hinaus, reckten die Hand zum Himmel, andere schrien Bibelzitate.
Nachdem das zwanzig Minuten oder länger so ging, ließ meine Konzentration nach. Oben drückte die Kirchenbank trotz Stricktop und Mantel an den Schultern, unten tat mir das Gesäß weh. Ich hoffte zusehends, dass der Heilige Geist in mich fahren und mich zum Aufspringen veranlassen würde.
Es war schon fast zwölf Uhr, und ich wünschte mir gerade, ein Buch mitgebracht zu haben, als ich merkte, dass die Leute sich umdrehten und die Hälse verrenkten, um einen weiteren Neuankömmling zu beobachten. Ich tat es ihnen gleich. Und erblickte zu meinem Erstaunen Buffalo Bill, der mit seinem Stock nach vorne stapfte, gefolgt von Mr. William, an dessen Arm eine alte Frau im Pelzmantel einherschritt. Trotz Pelz und Diamantohrringen sah sie aus wie die klassische liebe Omi aus dem Bilderbuch. Es handelte sich offenbar um May Irene Bysen, die Großmutter, von der Billy seine Manieren und seine Frömmigkeit erlernt hatte. Gegenwärtig wirkte sie etwas ängstlich ob der ungewohnten Umgebung und des Geräuschpegels. Sie hatte das Kinn vorgereckt und hielt sich an ihrem Sohn fest, blickte aber aufmerksam um sich, auf der Suche nach ihrem Enkel.
Weitere Teilnehmer der Prozession waren Tante Jacqui und Onkel Gary. Ihre Hand - in edlem Handschuh - ruhte auf seinem Arm. Statt eines Mantels trug sie einen Cardigan mit Fledermausärmeln, der ihr gerade mal bis zu den
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