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Feuerflut

Feuerflut

Titel: Feuerflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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gestillt worden und durch das Licht, das einen Sinn freigesetzt hatte, von dem sie zwar gespürt hatte, daß er ihr fehlte, den sie sich aber nicht genau hatte vorstellen können. Nachdem sie sich klargemacht hatte, daß etwas wie eine Geburt würde geschehen müssen, wurde sie in ihrem Gefängnis viel ruhiger als sie noch kurz zuvor gewesen war. Als sie zum ersten Mal erkannte, daß sie eingesperrt war, als sie plötzlich groß genug war, um beide Horizonte ihrer Kugel berühren zu können, war sie trotz ihrer Intelligenz wild, mißtrauisch und jähzornig geworden. Sie hatte getobt und einen Ausweg gesucht; nichts nahm Kenntnis von ihrer kurzen Raserei. Die Wände hatten eine schwammige Oberfläche, und darunter waren sie hart; sie gaben ein wenig nach, doch sie hielten sie fest. Sie implizierten aber, daß jenseits der Dunkelheit etwas war, und ließen eine Vorstellung davon in ihr entstehen. Alle ihre Sinne waren im Innern des Gefängnisses, und so stellte sie sich vor, daß man sie bei ihrer Befreiung von innen nach außen kehren würde. Sie erwartete Schmerz.
    Während sie wartete, wünschte sie sich manchmal, sie wäre ein niederer Primat, klein und dumm genug, um die salzige Flüssigkeit als das Universum zu akzeptieren. Und selbst als sie unbeholfen mit Händen und Füßen strampelte und paddelte und dabei den kräftigen Antrieb des Schwanzes vermißte, den sie nicht mehr hatte, veränderte sie sich. In jener Zeit kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, daß im Spektrum ihrer Sinne vielleicht ein wesentlicher Bestandteil fehlte. Ihre Umgebung war immer noch fremdartiger als zu der Zeit, da sie ein geschmeidiges Amphibienwesen war, kaum bewußt, langschwänzig und frei in einer unermeßlichen Welt. Noch früher bestanden ihre Erinnerungen aus kinetischen Eindrücken von pumpenden Kiemen und einem flatternden Herzen, den flachen, periodischen Vibrationen, die sich nie änderten.
     
    … und ließ sich in einem Schatten zu Lais’ Füßen niedersinken, regungslos und doch scheinbar sich kräuselnd unter dem Dunst und der unruhigen Wasseroberfläche. Lais kauerte sich in ihrem dicken Mantel nieder. Die schindelartig übereinandergewachsenen Äste eines knorrigen Baumes schützten sie zwar vor dem Graupelregen, nicht aber vor dem Wind. Sie schauderte. Über ihr kondensierte sich der Dunst, der aus dem Tümpel aufstieg, in dicken Tropfen an den Unterseiten der dunkelgrünen Nadeln und fiel wieder herab. Der Baum roch kühl und herb. Hinter ihrem Unterschlupf erhoben sich die Umrisse von Statuen, kleine Gärten erstreckten sich fließend zwischen niedrigen Gebäuden, und graupelgesäumte Pfützen reflektierten aufblinkendes Licht. Außer Lais und den Fischen war niemand an der mit Steinplatten gepflasterten schmalen Allee. Leute hatten ihre Spuren hinterlassen; aufgeweichtes Papier, das noch nicht aufgelesen worden war, Anschläge und Plakatständer, die die Redner hatten im Regen stehenlassen und die jetzt aneinandergelehnt dastanden wie tote Bäume. Lais ließ ihren Blick schnell über sie hinwegstreichen und versuchte, die Worte nicht zu sehen; in dem trüben Licht konnte sie fast so tun, als könnte sie sie nicht lesen.
    Wenn sie hier wegginge, könnte sie in die Stadt gehen und vielleicht eine halbe Stunde in der warmen, hell erleuchteten Nacht verbringen, bevor ein Agent sie die Leute anbetteln sehen und sie davonjagen würde; vielleicht würde er sie auch festhalten und überprüfen lassen. Das konnte sie sich nicht leisten. Sie blieb, wo sie war. Sie zog den Mantel um ihre Knie und legte den Kopf darauf. Es war ihre eigene Entscheidung, im Freien zu bleiben. Im nahe gelegenen Asyl würde sie eine Übernachtung bekommen können, aber hier draußen betäubte die Kälte sie, ein kostenloses Anästhetikum, das sie sonst womöglich in schädlicherer Form würde kaufen müssen.
    Schlurfende Schritte im Matsch auf den Steinplatten schreckten sie auf. Steif kroch Lais unter ihrem Baum hervor. Ein Schmerz krallte sich um ihre Wirbelsäule, bevor sie sich aufrichten konnte. Sie lehnte sich an die Gartenmauer und atmete die dünne Luft in flachen, abgehackt keuchenden Zügen. Der Mann war fast auf gleicher Höhe, als sie in die Allee hinaustrat. „He, haben Sie ein bißchen Kleingeld?“
    Erschreckt und ein bißchen verängstigt blinzelte er durch den Regen auf sie herunter. Sein Gesicht war glatt und ohne Charakter, das gefaßte, augenscheinlich plastisch modellierte Gesicht, wie es Tausende von Verrätern hatten, ein

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