Feuerflut
Gesicht, wie sie es in ihrem Leben nicht mehr bekommen würde. Er hatte nichts zu fürchten als gnadenvoll kurze Senilität und einen schmerzlosen Tod, und bis dahin konnte es noch ein Jahrhundert dauern. Er würde etwa zehnmal so lange leben wie sie.
„Sie sind gut gekleidet für jemanden, der Geld braucht.“
Sie trat noch näher an ihn heran, so nahe, daß sie ihr eigenes Unbehagen verbergen mußte. Wenn sie überhaupt etwas brauchte, dann war es mehr Freiraum um sich herum als andere Leute, aber sie kannte dieses Bedürfnis und konnte es beherrschen. Der Mann gab nach und wich zurück, bis sie ihn schließlich, noch während sie redeten, mit dem Rücken an die Mauer gedrängt hatte. Er war geruchlos, ein olfaktorisches Nichts, gründlich abgeschrubbt und an Mund, Achselhöhlen, Füßen und Unterleib desodoriert, so sauber wie seine Gene. Selbst seine Kleider strömten keinerlei Geruch aus. Lais hatte seit Tagen nicht mehr gebadet, und ihre Kleider waren schmutzig; ihr feuchter Mantel roch vertraut nach Wolle, und sie selber roch wie ein warmes, weibliches Tier mit nassem Fell. In ihrer Vorstellung sah sie sich als ein Tier, das Jagd auf andere machte. Das amüsierte sie, denn in Wirklichkeit war sie ihr ganzes Leben hindurch die Gejagte gewesen.
„Manche Leute sind eben großzügiger“, sagte sie, als hätte ihr jemand den Mantel geschenkt. Dünne Haarsträhnen klebten feucht an ihrer Stirn und an ihrem Hals.
„Warum beanspruchen Sie keine Sozialhilfe?“
Sie lachte kurz und scharf auf, ohne zu antworten, und drehte sich um; nach höchstens zwei Schritten, so schätzte sie, würde er sie rufen. Er rief schon nach einem. „Brauchen Sie einen Platz zum Schlafen?“
Sie gab sich einen Ausdruck der Verachtung. „Das mache ich nicht, Mann.“
Der kalte Regen, der ihm über das Gesicht rann, verhinderte nicht, daß er errötete. „Also hören Sie, ich habe nicht gemeint …“
Sie wußte, daß er es nicht gemeint hatte.
„Schauen Sie, wenn Sie mir nichts geben wollen, vergessen Sie’s.“ Sie legte gerade genug Betonung auf das Wort „geben“
Er atmete hörbar aus und wühlte in seinen Taschen herum. Dann hielt er ihr einen zerknüllten Geldschein hin, den sie verächtlich betrachtete, aber erst, nachdem sie ihn genommen hatte. „Du lieber Gott, ein ganzer Gulden. Vielen Dank.“ Die Unverschämtheit ihrer gespielten Dankbarkeit erregte ihn mehr als direkter Spott. Sie ging davon; sie glaubte im Vorteil zu sein und ihn sprachlos und verwirrt zurückzulassen.
„Macht es Ihnen Spaß, Leute zu verletzen?“
Sie sah ihn an. Er zeigte keinerlei Ausdruck, nur dieses glatte, unbelebte Aussehen. Einen Moment lang betrachtete sie seine Augen. Sie zumindest waren noch lebendig.
„Wie alt sind Sie?“
Überrascht runzelte er die Stirn. „Fünfzig.“
„Dann können Sie nicht verstehen.“
„Und wie alt sind Sie? Achtzehn? Das ist kein so großer Unterschied.“
Nein, dachte sie, der Unterschied sind die hundert Jahre, die du noch hast, und der selbstgerechte Haß, den du auf mich hättest, wenn du wüßtest, was ich bin. Beinahe hätte sie ihm ehrlich geantwortet, aber sie brachte die Worte nicht heraus. „Für mich schon“, sagte sie verbittert. Erst fünfzig. Er war alt genug, daß der Aufstand sein Leben hätte beenden können, und wenn er ihre Art nicht haßte, so würde er sie doch fürchten. Tiefe Gefühle ließen sich nicht mehr so leicht von der Zeit auslöschen.
Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber er war ihr schon zu nahe gekommen; sie hatte ihn falsch eingeschätzt und er entsprach nicht mehr dem, was sie in ihm gesehen hatte. Ihre Fehler beunruhigten sie; es gab keine Entschuldigung dafür, jetzt noch nicht. Sie drehte sich um und wollte weglaufen, doch sie glitt aus und landete auf Händen und Knien im Matsch. Mühsam kam sie wieder auf die Beine und rannte davon.
Hinter einer Ecke mußte sie anhalten. Noch vor einem Monat hätte sie diese geringfügige Anstrengung nicht bemerkt; jetzt war sie davon erschöpft. Das Institut hätte sich wenigstens eine saubere Art ausdenken können, seine Zöglinge zu ermorden. Ein sauberer Tod wäre allerdings zwar schnell, aber allzu oft auch peinlich.
Der Wind in Lais’ Rücken wurde stärker. Auf der Radialstraße, die zum zentralen Landeplatz führte, schien es viel kälter zu sein. Schneeregen schmolz auf ihrem Gesicht und rann in ihren Kragen. Wenn sie zum Terminal ging, riskierte sie, daß man sie erkannte, aber sie glaubte nicht,
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