Feuerflut
endlich.
Die Erkenntnis war schmerzhafter als jeder Sturz.
»Was habe ich dir nur angetan?«, flüsterte er auf Französisch.
Er streckte die Hand aus, wollte ihre Wange berühren.
»Nehmen Sie sich in Acht«, sagte Painter.
Rafael war über solche Bedenken hinaus. Er wusste, dass er schwere Verletzungen hatte. Er fror, und bald würde der Schock die Oberhand gewinnen. Bei jedem Atemzug schmeckte er Blut auf der Zunge, denn die gebrochenen Rippen hatten die Lungenwand durchstoßen. Beide waren mehrfach gebrochen, wahrscheinlich auch seine Hüfte.
Er war am Ende, doch eine Weile würde er noch durchhalten.
Um ihretwillen.
Er streifte mit den Knöcheln über ihre Wangenknochen und ließ sie über den Kiefer bis zur Halsgrube hinunterwandern.
Sie verengte ein wenig die Augen.
Ihre Lippen formten die Andeutung eines Lächelns.
Ach, meine Liebe …
Er nahm sie behutsam in die Arme, spürte das warme Blut an ihrem Rücken, ihr Zittern. Sie versuchte, ihn wegzuschieben, als wollte sie ihn auch jetzt noch schützen.
Nein, lass mich der Stärkere sein … nur dieses eine Mal.
Ob sie ihn gehört hatte oder einfach nur zu schwach war, jedenfalls seufzte Ashanda auf und sank an seine Brust. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Sie schaute zu ihm auf, in ihren Augen eine Freude, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hatte. Er bedauerte unendlich, dass er ihr dieses schlichte Glück vorenthalten hatte – und sich selbst auch.
Eine Stimme störte seine Gedanken.
Um sie loszuwerden, nannte er fünf Zahlen, den Sperrcode der Handschellen.
Er vernahm Stiefelscharren. Zwei jugendliche Stimmen, erfüllt von Hoffnung und unverhüllter Zuneigung. Dann entfernten sie sich und nahmen das alles mit.
Er beugte sich vor und küsste Ashanda zärtlich auf die Lippen. Sie erbebten sacht. So hielt er sie eine kleine Ewigkeit lang umarmt, spürte jeden einzelnen Atemzug an den Wangen … langsamer werdend … und endend.
Er spürte, dass die Zersetzung auch ihn erfasst hatte, spürte es durch die Hand hindurch, mit der er sie hielt, durch die Schulter, mit der er sie stützte, durch seine Lippen, mit denen er sie küsste. Doch es war ein wundervoller Schmerz. Er stammte von ihr, und er war damit einverstanden.
Deshalb hielt er sie weiter umarmt.
Eine Stimme lenkte ihn ab. Er wandte den Kopf und bemerkte, dass Painter noch immer bei ihm war. Er hatte geglaubt, der Mann sei gegangen. Die scheinbare Ewigkeit hatte anscheinend nur Minuten gewährt.
»Was wollen Sie, Monsieur Crowe?«, flüsterte er mit rauer Stimme. Er spürte, wie er sich allmählich auflöste.
»Wer sind Sie?«, fragte Painter, der wie ein Geier ein paar Schritte entfernt am Boden hockte.
Rafael lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er wusste genau, was der Mann von ihm wollte. So geschwächt sein Körper auch war, konnte er doch immer noch klar denken.
»Ich weiß, wonach Sie suchen, aber bei mir sind Sie an der falschen Adresse. Und bei meiner Familie auch.« Er schlug die Augen auf und fixierte Painter. Das Sprechen verursachte ihm Schmerzen, doch es musste sein. »Was Sie suchen, hat keinen Namen. Jedenfalls keinen offiziellen Namen.«
»Was wissen Sie darüber?«
»Ich weiß, dass der Stammbaum der ältesten amerikanischen Familien bis zur Mayflower zurückreicht. Das ist nichts weiter als ein Schluckauf im Lauf der Geschichte. Die Wurzeln der europäischen Familien reichen zwei-, drei-, viermal so weit zurück. Doch es gibt einige wenige – ein paar Auserwählte –, deren Stammbaum noch sehr viel weiter in die Vergangenheit reicht. Einige behaupten, sie könnten ihn bis in die Zeit vor Christi Geburt zurückverfolgen, aber wer weiß schon, ob das stimmt? Ich weiß nur, dass sie Reichtum, Macht und Wissen angehäuft und Einfluss auf die Geschichte genommen haben und sich hinter ständig wechselnden Gesichtern verstecken. Sie sind die geheimste aller Geheimgesellschaften.«
Er gab ein belustigtes Krächzen von sich – obwohl es ihm Schmerzen bereitete.
»Außenstehende gaben diesen Geschlechtern den Namen les familles de l’étoile, Sternfamilien. Soviel ich weiß, waren sie früher zahlreicher, doch jetzt gibt es nur noch eine einzige, den Reinen Stammbaum. Um stark zu bleiben, trachten sie danach, ihr Blut aufzufrischen, wie zum Beispiel aus meiner Familie, die zum oberen Echelon zählt.«
»Echelon?«
»Ein Rangsystem der jüngeren Familien, die danach streben, sich dem Stammbaum anzuschließen. Der erste Rang verwendet ein einzelnes
Weitere Kostenlose Bücher