Feuerflut
hell erleuchtet. Dort schlief niemand.
»Halten Sie an dem Haus an«, sagte Gray zum Fahrer.
Noch ehe das Taxi zum Stehen gekommen war, sprang er auch schon raus und warf dem Fahrer eine Handvoll Geldscheine zu. Seichan sah die Augen des Fahrers im Rückspiegel. Er wollte sich über die unhöfliche Behandlung beschweren, doch sie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Sie streckte die Hand aus.
»Das Wechselgeld.«
Sie gab ihm ein kleines Trinkgeld, steckte den Rest ein und stieg aus.
Sie folgte Gray, der über die Straße eilte, aber anscheinend nicht die Veranda ansteuerte. An der Hausseite führte eine schmale Einfahrt zu einer Garage. Das Rolltor war geöffnet, die Beleuchtung eingeschaltet. Zwei Personen zeichneten sich als Silhouetten in der Garage ab. Kein Wunder, dass niemand ans Telefon gegangen war.
Gray stürmte die Einfahrt entlang.
Als Seichan sich der offenen Garage näherte, hörte sie das Winseln einer Kettensäge. Sie schnupperte den Geruch von erhitztem Holz und den Zedernduft von Sägemehl. »Jack, du weckst noch die ganze Nachbarschaft«, sagte eine Frau flehentlich. »Schalt das Ding aus, und komm wieder ins Bett.«
»Mom …« Gray hatte den Schauplatz des Familiendramas erreicht.
Seichan hielt sich im Hintergrund, doch Grays Mutter bemerkte sie trotzdem. Sie legte die Stirn in Falten und versuchte, die Fremde zu erkennen, die ihren Sohn begleitete. Ihre letzte Begegnung lag zwei Jahre zurück. Wiedererkennen und Verwirrung spiegelten sich im Gesicht der alten Dame wider – und nicht ganz unerwartet auch ein Anflug von Angst.
Seichan registrierte mit Bestürzung, wie stark Grays Eltern gealtert waren. Beide waren nur noch Schatten ihrer selbst. Seine Mutter hatte wirres Haar und trug einen gegürteten Morgenmantel und Hausschuhe. Sein Vater war barfuß und mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet, sodass man seine am Oberschenkel befestigte Beinprothese sah.
»Harriet! Wo ist meine Schmirgelmaschine? Wieso kannst du mein Werkzeug nicht in Ruhe lassen?«
Grays Vater stand an der Werkbank, rot im Gesicht und mit Schweißperlen auf der Stirn. Er versuchte, ein Holzstück in den Schraubstock einzuspannen. Auf der Werkbank lief eine Tischsäge, auf dem Boden waren Eichenholzstücke verstreut, als hätte er die Einzelteile eines Puzzles ausgesägt, das er allein zusammensetzen konnte.
Gray zog den Stecker der Säge, dann trat er vor seinen Vater hin und versuchte, ihn von der Werkbank wegzulotsen. Sein Vater rammte ihm den Ellbogen ins Gesicht. Er taumelte zurück.
»Jack!«, schrie seine Mutter.
Sein Vater schaute verwirrt umher. Trotz seiner Demenz schien er allmählich zu begreifen, was er getan hatte. »Es tut mir … Das hab ich nicht gewollt …« Er fasste sich an die Stirn, als wollte er prüfen, ob er Fieber hatte. Er streckte Gray den Arm entgegen. »Tut mir leid, Kenny.«
Gray zuckte zusammen. »Dad, ich bin’s, Gray. Kenny lebt in Kalifornien.«
Seichan wusste, dass Grays Bruder, sein einziges Geschwister, im Silicon Valley ein Start-up-Unternehmen leitete. Gray, dessen aufgeplatzte Lippe blutete, näherte sich seinem Vater diesmal mit größerer Vorsicht.
»Dad, ich bin’s.«
»Grayson?« Er ließ sich von seinem Sohn in die Arme nehmen. Mit tränenden, geröteten Augen blickte er sich verdattert in der Werkstatt um. Der Schatten der Angst wanderte über sein Gesicht. »Was … wo …?«
»Schon gut, Dad. Lass uns reingehen.«
Der alte Mann entspannte sich und schwankte leicht auf seiner Beinprothese. »Ich brauche ein Bier.«
»Du kriegst gleich eins.«
Gray geleitete ihn zur Hintertür des Hauses. Seine Mutter folgte ihnen mit etwas Abstand, die Arme fest um die Brust geschlungen. Seichan hielt sich voll Unbehagen abseits.
Seine Mutter suchte mit tränenfeuchten Augen Seichans Blick. »Ich konnte ihn nicht mehr bändigen«, sagte sie aus dem Bedürfnis heraus, sich jemandem anzuvertrauen. »Als er aufwachte, war er ganz aufgeregt. Hat gemeint, er wär wieder in Texas und käme zu spät zur Arbeit. Dann ist er in die Werkstatt gegangen. Ich hatte Angst, er könnte sich die Hand abschneiden.«
Seichan machte einen Schritt auf sie zu, wusste aber nicht, wie sie diese besorgte Frau trösten sollte. Als spürte sie Seichans Hilflosigkeit, fuhr Grays Mutter sich durchs Haar, atmete tief durch und riss sich zusammen. Seichan kannte das von Gray her, doch nun wusste sie auch, woher er das hatte.
»Ich glaube, ich sollte Gray besser helfen, ihn ins Bett zu
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