Feuerfrau
eine Bronzeglocke.
»Ich kenne diese Geschichte nicht«, sagte ich schließlich. »Was bedeutet sie?«
»Daß Eleni ein besonderes Kind war. Eine Künstlerin. Ihr Schicksal sei gesegnet! Die Musik ist es, die uns mit den Göttern verbindet. Musik ist ein Gebet. Wir sind stolz auf Eleni. Auch wenn wir sie nur selten zu Gesicht bekommen, das macht nichts.«
Meine Faszination wuchs. Dieser Bauer mit seinen starken, abgearbeiteten Händen, seinen schwerfälligen Bewegungen, hatte Augen, die sich auf unsichtbare Dinge in weiter Ferne richteten, pechschwarz und doch von einer Klarheit, die sie fast durchsichtig schimmern ließ.
Die zittrige Stimme der alten Frau brach die Stille.
»Wo ist Sophia jetzt? Wann kommt sie endlich zurück? Bald werde ich sterben und unter der Erde begraben sein, ohne sie jemals wieder zu Gesicht zu bekommen…«
»Mutter, du bist müde«, seufzte Anghelina. »Willst du dich nicht ein bißchen hinlegen?«
Stavros führte sein Glas an die Lippen.
»Wir alle werden früher oder später senil«, meinte er sachlich. »Und seit drei Jahren geht sie auch nicht mehr auf das Feuer. Sie hat den Rhythmus verloren.«
»Aber sie wird unruhig, sobald wir die Ikonen enthüllen«, sagte Anghelina. »Wir haben Angst, daß sie sich verletzt. Wir geben ihr ein Schlafmittel.«
»Augenblick mal!«
Martin sah verwirrt zu mir hinüber.
»Worüber reden sie eigentlich?«
»Über die Zeremonie«, sagte ich. »Demetria möchte gerne mitmachen, aber in ihrem Alter ist es gefährlich.«
Martin sagte auf Englisch:
»So nett die Leute auch sein mögen, mir will nicht aus dem Kopf, daß das Ganze nur Hokuspokus für Touristen ist. Sie kommen ja sogar mit dem Bus!«
Anghelina und Stavros sahen uns fragend an. Ich sagte: »Martin hat festgestellt, daß viele Fremde da sind.«
»O ja, das kann man wohl sagen!« Beide tauschten einen Blick voll gutmütigem Spott, und Anghelina lachte.
»Es werden jedes Jahr mehr. Und es sind nicht nur Touristen. Auch Zeitungs- und Fernsehleute und alle möglichen Wissenschaftler, die unser Fest studieren wollen.«
»Da kreuzen Psychologen und Parapsychologen auf«, hatte mir Eleni bereits in Paris erzählt. »Fotoreporter, Volkskundler, Musikwissenschaftler, Ärzte mit Injektionsmaterial und allen möglichen medizinischen Apparaten, um die Gehirnfrequenzen der Anastenariden aufzunehmen.
Viele vermuten einen faulen Trick dahinter. Und die Anastenariden sind so gutmütig und unbefangen, daß sie alle Experimente mit sich machen lassen.«
»Sie stören uns nicht«, sagte Anghelina, als ob sie in meinen Gedanken las. »Wir haben auch nichts dagegen, wenn sie uns filmen, unsere Füße untersuchen oder den Blutdruck messen. Wir leben schließlich in einer modernen Zeit, nicht wahr? Das Fest, das wir feiern, ist über tausend Jahre alt. Aber was in uns vorgeht, hat noch keiner herausgefunden. Schade! Ich würde es gerne mal wissen.« Sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Das sage ich nur jetzt. Wenn ich tanze, beschäftige ich mich nicht mehr mit solchen Fragen. Da ist mir alles ganz gleich.« Stavros nickte ruhig.
»Jeder kann bei unserem Fest zugegen sein. Das war schon in alten Zeiten so. Die Unsterblichen leben in ihrem eigenen Licht. Wer Augen hat, mag ihre Schönheit sehen, wer Ohren hat, ihre Stimme hören. Die Unwissenheit eines Gastes vergeben sie, aber sie schließen ihnen die Augen mit Finsternis.«
Wieder verspürte ich das seltsame Kribbeln. Stavros und Anghelina hatten plötzlich wieder Griechisch gesprochen. Es gab einige Worte, die ich nicht richtig verstanden hatte. Aber ich wußte, daß beide tief in uns schauten, daß weder Martin noch ich ihnen etwas verbergen konnten. Das beunruhigte mich nicht, im Gegenteil. Mir war, als ob das unsichtbare Strahlenfeld ihrer Zuneigung mich mit warmem Licht berührte.
Martin indessen rutschte unbehaglich hin und her.
»Um was geht es denn eigentlich?«
Ich rief meine abschweifenden Gedanken zur Ordnung.
»Sie sagen, daß du willkommen bist und fotografieren kannst, soviel du willst.«
»Oh, das ist ja großartig!« Martin bedankte sich erfreut und sagte zu Stavros: »Ich würde gerne etwas mehr über das Fest erfahren.«
Stavros entschuldigte sich und sprach ein paar Worte. Ich wandte mich Martin zu.
»Stavros bittet mich, zu übersetzen. Ihm fällt es manchmal leichter, nicht Französisch sprechen zu müssen.«
Martin lächelte ihn an.
»Das ist schon in Ordnung.«
»Früher dauerte das Fest drei Tage«, erklärte
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