Feuerfrau
sein, daß ich auf einigen Gebieten versagt habe…«
Auf einigen? Auf vielen! So nach und nach, als ich heranwuchs, fand ich heraus, daß von ihr keine Hilfe zu erwarten war. Daß sie nicht die Fähigkeit hatte, mich aus irgendeiner Klemme zu ziehen, ja nicht einmal, mir brauchbare Ratschläge zu geben.
»… Aber das gibt dir nicht das Recht, mir Vorwürfe zu machen«, beendete sie ihren Satz.
»Ich habe mich verändert. Du nicht, das ist das Problem. Läuft dir ein Mann über den Weg, schmilzt du vor zärtlichen Gefühlen davon und verstrickst dich in blöde Situationen. Und ich kann wirklich nicht glauben, daß du nicht siehst, wie du ausgenutzt wirst.« Jetzt wurde sie wirklich böse.
»Soll ich dich vor die Tür setzen? Du kannst verdammt überheblich sein, genau wie dein Vater. Ich bin anders, lege mehr Wert auf menschliche Qualitäten. Jede meiner Beziehungen hat mir etwas gebracht, etwas, was ich vielleicht nötig habe.«
Sie sah mich an, eine Spur von Trotz um den Mund. Sie wirkte nicht gerade unecht oder affektiert, aber ich entdeckte doch in ihr diese gekünstelte Herausforderung, mit der sie ihre Schwäche zu verbergen suchte. Und gleichzeitig fiel mir auf, wie zerbrechlich sie war, mit ihren schmalen Wangen, ihrer feinen, schon zerknitterten Haut. Sie war eine verletzliche Natur, ohne die Kraft und den Ehrgeiz, durch Ellenbogenarbeit weiterzukommen. Immerhin war sie verletzlich auf produktive Weise. Ihre Feinfühligkeit zeigte sich in ihren wundervollen, tiefgründigen Bildern und Ornamenten. Daneben brauchte sie jemanden, der ihre Steuererklärung ausfüllte, ihre Rechnungen pünktlich auf die Post brachte. Sie sah lauter Kleinkram, ich war nüchtern. Meine Mutter hätte meine Tochter sein können. Sie nährte sich von meiner Lebenskraft und gab mir nichts dafür, außer ein perfektes Gefühl für Formen und Farben. Und was sollte ich damit anfangen? Das war es, als es erkennbar wurde, was mich so schnell auf Distanz gehen ließ. Sie hatte sich nach der Scheidung von meinem Vater schnell getröstet. Eine Spur zu schnell, für mein Empfinden. Der blonde, etwas pummelige Typ hieß Vincent und gab Malunterricht. Ich stellte keine Fragen, guckte auch nicht durchs Schlüsselloch und fand die Situation, daß meine Mutter mit einem fremden Mann im Bett lag, ganz unerträglich. Carmilla wurde die Sache peinlich. Sie schrieb meinem Vater von den Schwierigkeiten, in der Nähe eine geeignete Schule für mich zu finden. Sie erzählte von einem Mädchengymnasium in der rue Francois Miron. Das Internat, ein ehemaliges Kloster der Benediktinerinnen, hieß
»Sainte Agathe«. Derzeit wurde es von Lehrerinnen geleitet, nahm Schülerinnen verschiedener Konfessionen auf. Die Schule hatte einen hervorragenden Ruf, galt als fortschrittlich und war sehr teuer. Mein Vater schickte das Geld. Carmilla behielt einen Teil davon für sich und steckte es Vincent zu – aber das erfuhr ich erst später. Ich blieb drei Jahre in diesem Internat. Wenn ich mich aber daran erinnerte, konnte ich gar nicht glauben, daß ich so lange dort gewesen war. Vielleicht lag es daran, daß ich mich an diese Zeit nicht im ganzen erinnerte, sondern nur in kleinen Stücken. Zum Beispiel: die langen Gänge, in der Mitte ein schmaler Streifen braunen Linoleums; die düsteren Aufenthaltsräume, holzgetäfelt, mit den langen Tischen und hochlehnigen Stühlen, wo es immer nach Möbelpolitur roch; ferner der hartnäckige Geruch der Toiletten; die schlecht geheizten Klassenzimmer mit den Wandtafeln und der Landkarte, die, wenn man sie zu schnell herunterzog, mit lautem Klatschen wieder hochrutschte.
Das Gebäude, ringsherum von einer Mauer abgeschlossen, hatte einen gepflasterten Innenhof, auf dem wir bei schönem Wetter Turnübungen machten. Die Mädchen schliefen in einem Großraum, durch stoffbezogene Trennwände in Zellen aufgeteilt. Man hörte Schlafgeräusche, Husten, das Rascheln der Decken. Jede Schülerin verfügte über eine Waschschüssel, einen Toiletteneimer und ein Handtuch mit Wabenmuster. Geduscht wurde nach dem Turnunterricht, gebadet einmal in der Woche, am Freitag. Im allgemeinen verbrachten die Schülerinnen das Wochenende zu Hause; manche blieben auch sonntags im Internat. Ab dreizehn wurde uns erlaubt, zu zweit oder dritt spazierenzugehen; Museumsbesuche waren erwünscht, jugendfreie Filme gestattet, aber nur in der Nachmittagsvorstellung. Um sieben mußten wir wieder im Internat sein.
Ich war nicht unglücklich in Sainte Agathe.
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