Feuerkind
sie war wieder den Tränen nahe. »Nein … mir fehlt nichts.«
Sie wartete und überlegte, ob er das Gespräch fortsetzen wollte, ob er, wie die anderen, versuchen würde, in sie zu dringen, aber er war einfach weggegangen und hatte den Staubsauger wieder eingeschaltet. Irgendwie war sie enttäuscht.
Bei anderer Gelegenheit hatte er den Fußboden aufgewischt, und als sie aus dem Bad kam, hatte er, ohne aufzublicken, gesagt: »Paß auf, daß du nicht fällst und dir die Arme brichst, Kleine. Der Fußboden ist naß.« Das war alles, aber auch diesmal hatte sie vor Überraschung fast geweint – seine Besorgnis war so echt und direkt, daß sie nicht gespielt sein konnte.
In letzter Zeit war sie dann immer öfter aus dem Bad gekommen, um ihm zuzuschauen. Ihm zuzuschauen … und zuzuhören. Manchmal fragte er etwas, aber nie klang es drohend. Dennoch antwortete sie meist nicht. Einfach aus Prinzip. John machte es nichts aus. Er sprach trotzdem zu ihr. Er berichtete, wie er beim Bowling abgeschnitten hatte, erzählte von seinem Hund und davon, daß sein Fernsehgerät kaputt sei und er es erst in ein paar Wochen würde reparieren lassen können, weil diese kleinen Röhren so teuer waren.
Sie hielt ihn für einsam. Bei seinem Gesicht hatte er wahrscheinlich keine Frau. Sie hörte ihm gern zu, denn das war wie eine geheime Verbindung nach draußen. Er hatte eine tiefe, angenehm klingende Stimme, die sich manchmal ein wenig verlor. Nie klang sie scharf oder bohrend wie die Hockstetters. Anscheinend verlangte er keine Antwort von ihr.
Sie stand vom Toilettensitz auf und trat an die Tür, und in diesem Augenblick gingen die Lichter aus. Erschrocken stand sie da, eine Hand am Türknauf, den Kopf schiefgelegt. Sofort fiel ihr ein, daß dies irgendein Trick sein könnte. Sie hörte, wie das Heulen des Staubsaugers erstarb. Dann sagte John: »Was, zum Teufel, ist das?«
Dann gingen die Lichter wieder an. Aber Charlie blieb noch im Bad. Der Staubsauger heulte wieder auf. Schritte näherten sich der Tür, und John fragte: »Ist das Licht dort drinnen eben kurz ausgegangen?«
»Ja.«
»Das kommt wohl vom Sturm.«
»Von welchem Sturm?«
»Es sah nach Sturm aus, als ich zur Arbeit kam. Dichte Gewitterwolken.«
Es sah nach Sturm aus.
Draußen. Wenn sie doch nur hinausgehen und die dichten Gewitterwolken sehen könnte. Die Luft atmen, die vor einem Sommergewitter immer so anders roch. So naß und so nach Regen. Alles sah dann so -
Wieder gingen die Lichter aus.
Und wieder erstarb das Heulen des Staubsaugers. Die Dunkelheit war total. Ihre einzige Verbindung zur Welt war der Türknauf aus Chrom. Nachdenklich spielte sie mit der Zunge an der Oberlippe.
»Kleine?«
Sie antwortete nicht. Ein Trick? Sturm, hatte er gesagt. Und sie glaubte ihm. Es war überraschend und beängstigend, daß sie nach all dieser Zeit wieder etwas glaubte, das ihr jemand erzählte.
»Kleine?« Das war er wieder. Und diesmal klang es … ängstlich.
Ihre eigene Furcht vor der Dunkelheit, die sie jetzt beschlich, verband sich mit seiner.
»Was ist los, John?« Sie öffnete die Tür und streckte eine tastende Hand in die Dunkelheit aus. Sie verließ noch nicht das Bad, denn sie wollte nicht über den Staubsauger stolpern.
»Was ist los?« Nackte Panik lag in seiner Stimme. Das machte ihr Angst. »Was ist mit dem Licht?«
»Es ist aus«, sagte sie. »Sie sagten doch … der Sturm …«
»Ich kann die Dunkelheit nicht ertragen«, sagte er. Aus seiner Stimme hörte sie Entsetzen und den grotesken Versuch einer Enschuldigung. »Das kannst du nicht verstehen. Ich kann nicht … ich muß hier raus …« Sie hörte ihn verzweifelt durchs Zimmer eilen, und dann stolperte er über etwas und stürzte mit lautem, schrecklichem Gepolter zu Boden – wahrscheinlich war es der Beistelltisch.
Er schrie gequält auf, und das erschreckte sie noch mehr.
»John? John! Ist etwas passiert?«
»Ich muß hier raus. Sag ihnen, sie sollen mich rauslassen, Kleine!«
»Was ist denn nur los?« Lange antwortete er nicht. Dann hörte sie tiefe und erstickende Laute und wußte, daß er weinte.
»Hilf mir«, sagte er dann, und Charlie stand in der Badezimmertür und versuchte, zu einem Entschluß zu kommen. Ein Teil ihrer Angst war schon in Mitgefühl umgeschlagen, der Rest war noch hellwach und mißtrauisch.
»Hilf mir, oh, jemand muß mir doch helfen«, sagte er leise, so leise, als glaubte er nicht, daß jemand ihm zuhörte oder sich um seine Worte überhaupt kümmerte.
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