Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
nimmt ihre
Jacke vom Haken, zieht den Vorhang von der Tür des Führerstands zurück und
schließt sie wieder auf. Jetzt muss sie noch einmal hinüber zum Führerstand auf
der anderen Seite des Zuges, um ihn aus dem Bahnhof aufs Abstellgleis für die
Nacht zu fahren. Als sie durch den Fahrgastraum stapft, sieht sie am hinteren
Ende noch jemanden sitzen. Der Kopf ist nach vorn auf die Brust gesunken.
Jetzt
ist der auch noch eingepennt, denkt sie.
Sie
packt den Mann an der Schulter und schüttelt ihn leicht.
»Endstation
mein Herr! Aufwachen! Sie müssen aussteigen!«
Der
Mann kippt zur Seite und schlägt gegen ihr Bein. Sein Gewicht ist so schwer,
dass sie ihn nicht mit den Händen halten kann. Er rutscht auf den Boden und
bleibt mit dem Gesicht nach unten liegen. Sie starrt entgeistert auf den
regungslosen Körper vor ihren Füßen. Im selben Moment wird ihr klar, dass etwas
Schreckliches passiert ist.
*
Aus den Lautsprecherboxen hämmert der Beat der Gruppe Steppenwolf. Magic
Carpet Ride . Swensen zuckt es automatisch in den Beinen. Sein Herz schlägt
plötzlich im Schlagzeugtakt und seine Gedanken fliegen aus dem Stand in die
Zeit zurück, als er noch jede Woche mindestens ein Buch von Hermann Hesse
verschlang.
I like to dream yes, yes, right between my sound
maschine
On a cloud of sound I drift in the night
Any place it goes is right
Goes far, flies near, to the stars away from here
Genau,
möglichst weit weg von hier, nur nicht in Husum wollte er die Suche nach dem
Sinn beginnen. Er entschied sich für Philosophie, begann ein Studium in
Hamburg. Es war nur ein kurzer Sommer, die Beatles sangen ›All you need is
love‹ und ehe er sich versah, verwandelte sich der hämmernde Beat abrupt in
Maschinengewehrrattern. Der Vietnamkrieg ließ alle Träume einer friedlichen
Welt wie eine Seifenblase platzen.
Und
jetzt, denkt er. Jetzt steht bald wieder ein Krieg ins Haus. Täglich können die
Amerikaner in Afghanistan zuschlagen.
»Hast
du irgendwo das Geburtstagskind gesehen, Jan?«, fragt Desiree Lade, während sie
Swensen eine knusprigbraune Wurst mit der Zange unter die Nase hält. Der
schüttelt den Kopf.
»Keine
Ahnung, wo dein Mann sich gerade rumtreibt, Desiree!«
Gegen
ihren dickleibigen Gatten Dr. Michael Lade wirkt die kleine zierliche Frau mit
der blonden Pagenfrisur wie eine Käthe Kruse Puppe. Swensen ist mit dem Ehepaar
seit mehreren Jahren befreundet. Er hatte den Doktor während der Polizeiarbeit
kennen gelernt, weil er öfters geholt wurde, wenn der Tod eines Menschen
festgestellt werden musste.
»Eine
Thüringer?«, fragt Desiree und wippt mit der Wurstzange.
»Nein
danke! Du weißt doch!«
»Oh
ja! Wie blöd von mir! Es liegen aber leckere Gemüsespieße auf dem Grill.«
»Danke,
vielleicht später!« sagt Swensen, füllt sein Weinglas halb voll Mineralwasser
und mixt es mit Apfelsaft. Auf Festen wird ihm immer besonders deutlich, dass
ein Vegetarier im hohen Norden schon zu einer ungewöhnlichen Spezies gehört.
Was
ist da erst ein buddhistischer Vegetarischer in Husum, denkt er. Zum Glück ist
alles relativ.
Erst
seit sie an diesem rätselhaften Fall mit der Hand arbeiten, gibt es in Husum
für ihn plötzlich wesentlich mehr Muslime als Buddhisten. Es ist, als wenn
etwas Unbewusstes ins Bewusstsein getreten ist. Jetzt vergeht kaum ein Tag, an
dem er nicht eine junge Frau mit Kopftuch auf einem Fahrrad vorbeiradeln sieht
oder einen Mann entdeckt, der mit Häkelkäppchen auf dem Kopf demonstrativ einen
Schritt vor seiner Frau über den Bürgersteig marschiert.
Wir
leben mit ihnen Tür an Tür, hatte er sich letzten Donnerstag gesagt, und wir
haben nicht den Funken Ahnung vom Islam. Noch am selben Abend war er in der
Krämerstraße gewesen, hatte in der Buchhandlung Delff ein Buch über die fünf
Weltreligionen bestellt und sich übers Wochenende durch den Islamteil gewühlt.
Er
musste sich in eine unbekannte Gedankenwelt hineinversetzen. Der Koran, im
Gegensatz zur indischen Veda und der Bibel, die über einen langen Zeitraum
entstanden waren, ist das ausschließliche Werk des Propheten Mohammed. Allah
wird dort kompromisslos als der einzige und ewige Gott gesehen. Er ist es, der
jeden Augenblick alles neu erschafft. Jedes Ereignis in der Welt ist bis in
alle Ewigkeit ein schöpferischer Akt Gottes, der Mensch nur der ausführende
Teil seines Willens. Er braucht das Schicksal nur in die Hand Gottes zu legen
und ist mit der Welt im Reinen. Ein göttlicher Ausspruch
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