Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
an den ungläubigen Thomas, denkt er. Ist das die letzte
Prüfung vor meinem Tod?
Eine
einsame Träne läuft über seine Wange. Er muss unwillkürlich an die schwere Zeit
nach seiner ›Strafversetzung‹ denken.
Natürlich
war das unselige Wort »Strafversetzung« damals nicht gefallen. Der
Landesbischof hatte von innerer Besinnung gesprochen, von einem Neuanfang in
einer kleinen Gemeinde, um zu erkennen, dass die Verkündung von Gottes
Botschaft vor allem Demut erfordert. Als er mit dreiundvierzig Jahren seinen
Dienst in der alten Stephanuskirche von Westerhever antreten musste,
fühlte er sich innerlich weiterhin wie sein Vorbild Laurentius , ein
streitbarer Patron der Armen. Rein äußerlich glich er damals noch der
christlichen Ausgabe eines Che Guevara. Das robuste Gotteshaus, das 1370 auf
einer Warft (Erdhügel) errichtet worden war, hatte etwas archaisches,
das eigentlich gut zu ihm gepasst hätte. Nur der gewaltige Steinturm mit den
dicken Stützpfeilern war aus der ersten Zeit erhalten geblieben, hatte im
Mittelalter sogar als Seezeichen für die Schifffahrt gedient. 1804 wurde das
Kirchenschiff wesentlich verkleinert, und obwohl die Kirche noch heute wie eine
Trutzburg in der Marschlandschaft dastand, hatte Hagedorn sich oft so gefühlt,
als wenn man ihn auf den letzten Posten vor dem Himmelreich verbannt hätte. Die
Mitglieder seiner Gemeinde hatten sich als äußerst wortkarg und misstrauisch
herausgestellt. Es hatte Jahre gebraucht, bis er an diesem Ort nah an der
Küste, an dem früher die Wogemänner (Seeräuber) gehaust hatten, Fuß
fassen konnte. Als Erstes hatte er seine langen Haare und den Bart opfern
müssen, sozusagen vor dem Altarbild der heiligen Familie, das der berühmte
Halligmaler Jakob Alberts nach einem Vorbild von Anthonis van Dyck für diese
Kirche angefertigt hatte. Mit den Jahren war er zu einem bescheidenen Diener
Gottes geworden, der die Neugeborenen über den ältesten Taufstein von
Eiderstedt hielt und der auf mancher Hochzeitsgesellschaft seinen berühmten
Pastor-Witz zum Besten gab:
Stewel,
ein reicher Bauer aus Osterhever, war mal wieder nicht zum Gottesdienst
erschienen. Der Pastor legt sich auf die Lauer und ertappt ihn, wie er sich aus
dem Kirchspielkrug schleichen will, der auf Eiderstedt fast neben jeder Kirche
steht.
»Stewel«,
stellt der Pastor ihn zur Rede, »wieso zechst du während des Gottesdienstes im
Kirchspielkrug?«
»Lieber
Herr Pastor, was wäre Gott denn wohl lieber, dass ich in der Kirche sitze und
an den Kirchspielkrug denke, oder dass ich im Kirchspielkrug sitze und an die
Kirche denke?«
Die Bauern als solche können schon richtige Dickschädel sein, denkt er.
Das
musste er nicht nur als Pastor begreifen, sondern auch jetzt als Rentner.
Seitdem er sich im Naturschutzbund dafür einsetzt, dass möglichst viele neue
Naturschutzgebiete entstehen, laufen selbst die Landwirte in Hollbüllhuus gegen
ihn Sturm. Dabei ist die Hälfte aller Vogelarten in Schleswig-Holstein vom
Aussterben bedroht. In Windeseile hatte sich im Dorf herumgesprochen, dass er
da mitmacht. Jetzt hat er nur noch Zoff. Unbekannte haben vor kurzem neben
seinem Haus ein Pappschild aufgestellt. Darauf steht mit einem Filzstift
geschrieben:
›Der
NABU steuert mit Bravur,
das
Land in eine Ökodiktatur!‹
Aus
dem Schilfgürtel vor dem Ausguck hört er den schnarrenden Ruf eines
Schilfrohrsängers. Zrüzrüzrü , zrüzrütrett , psit , trutrutru .
Verwundert sucht er die Schilfstängel ab, denn normalerweise verlässt der
kleine, beigebraune Vogel bereits im August Deutschland. Hagedorn kann nur noch
sein hartes tschek hören, ansonsten ist nichts zu entdecken.
Gleichzeitig spürt er, dass seine Füße vom langen Sitzen eiskalt geworden sind.
Er steht auf, trampelt über den Holzboden, aber ihm wird nicht warm. Er klettert
die Leiter hinunter und setzt seinen Marsch fort. Nach fünf Minuten endet der
Feldweg. Ein langer Holzsteg führt links direkt über das Hochmoor. Damit die
feuchten Bohlen genügend Halt bieten, sind diese mit Maschendraht überzogen.
Vorsichtig setzt er einen Schritt vor den anderen. Die für dieses Moor
typischen Bulten , kleine mit Torfmoos überwucherte Erhöhungen, ragen aus
den mit Wasser gefüllten Schlenken (Vertiefungen). Mit einem scharfen
Rechtsknick führt der Steg auf den festen Feldweg zurück. Neben ihm erklingt
wieder das zrüzrüzrü , zrüzrütrett , psit , trutrutru .
Hagedorn bleibt stehen und sucht mit den Augen das Gebüsch ab. Jetzt
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