Feuermale
sie ein winziges Wesen, darin gefangen, das Gefahr lief, von einem Vorsprung in irgendeine tiefe Kluft darin zu fallen, aus der sie nie wieder hochklettern könnte.
Sie nannte dieses Gefühl die Zone. Die Zone war ein alter Feind. Aber so gut sie sie auch kannte, sie machte ihr immer wieder entsetzliche Angst. Sie wußte, wenn sie nicht dagegen ankämpfte, würde sie die Kontrolle verlieren, und Kontrolle war alles. Wenn sie nicht dagegen ankämpfte, würde sie ganze Zeitblöcke ihres Lebens verlieren. Sie könnte sich selbst verlieren, und was würde dann passieren?
Es schüttelte sie jetzt, und sie fing an zu weinen. Stumm.
Immer stumm. Sie durfte nicht zulassen, daß sie irgend jemand hörte, sie durfte sie nicht wissen lassen, wieviel Angst sie hatte. Ihr Mund öffnete sich mit Gewalt, aber sie erstickte die Schluchzer, bis ihr Hals schmerzte. Sie drückte ihr Gesicht gegen ihre Knie, kniff fest die Augen zu. Die Tränen brannten, fielen, glitten ihren bloßen Schenkel hinunter.
Vor ihrem inneren Auge sah sie die brennende Leiche.
Sie rannte vor ihr weg. Sie rannte und rannte, kam aber nirgendwo an. In ihrer Vorstellung wurde sie die Leiche, aber sie konnte die Flammen nicht spüren. Sie hätte den Schmerz begrüßt, aber sie konnte ihn nicht mit dem Bewußtsein allein heraufbeschwören. Und währenddessen spürte sie, wie sie immer mehr in der Schale ihres Körpers schrumpfte.
Aufhören! Aufhören! Aufhören! Sie kniff sich fest in den Schenkel, bohrte die ausgefranste Kante ihres Fingernagels in die Haut. Und trotzdem spürte sie immer noch, wie sie tiefer und tiefer in die Zone gesogen wurde.
Du weißt, was du zu tun hast. Die Stimme entfaltete sich in ihr wie ein schwarzes Band. Sie erschauderte davor. Sie wand sich um ihre lebenswichtigen Organe, eine seltsame Matrix von Angst und Bedürfnis.
Du weißt, was du zu tun hast.
In Panik zerrte sie ihren Rucksack zu sich, fummelte am Reißverschluß und kramte in der Innentasche nach dem Ding, das sie brauchte. Ihre Finger krümmten sich um den Teppichschneider, der als kleiner Plastikschlüssel getarnt war.
Zitternd würgte sie die Schluchzer ab, kroch zu einem Streifen Licht auf dem Bett und schob den linken Arm ihres Flanellhemdes hoch, enthüllte einen dünnen weißen Arm, der von schmalen Narben gestreift war, eine neben der anderen, eine neben der anderen säumten sie ihren Arm wie die Pfähle eines Eisenzaunes. Die Klinge tauchte aus dem Ende des Schneiders auf wie eine Schlangenzunge und sie strich damit über die zarte Haut in der Nähe ihres Ellbogens.
Der Schmerz war scharf und löste scheinbar einen Kurzschluß in der Panik aus, die ihr Bewußtsein elektrisch geladen hatte. Blut erblühte aus dem Schnitt, ein glänzender schwarzer Tropfen im Mondlicht. Sie starrte ihn an, hypnotisiert, während Ruhe sie durchflutete.
Beherrschung. Beim Leben ging es nur um Beherrschung. Schmerz und Beherrschung. Diese Lektion hatte sie vor langer Zeit gelernt.
»Ich überlege, ob ich meinen Namen ändern soll«, sagt er.
»Was hältst du von Elvis? Elvis Nagel.«
Seine Gefährtin sagt nichts. Er nimmt ein Höschen von dem Stoß in der Schachtel und drückt es an sein Gesicht, begräbt seine Nase im Zwickel und atmet tief den Geruch von Muschi ein. Nett. Geruch ist kein so gutes Stimulans für ihn wie Geräusche, aber doch »Kapierst du?« sagt er.
»Es ist ein Anagramm. Elvis Nagel – Elvis’ Angel, sein Engel.«
Im Hintergrund laufen drei Fernseher mit Videos der lokalen Sechsuhrnachrichten. Die Stimmen vereinen sich zu einer Kakophonie, die er stimulierend findet. Der gemeinsame Faden, der alle Sendungen durchzieht, ist Dringlichkeit. Dringlichkeit erzeugt Angst. Angst erregt ihn. Ganz besonders genießt er den Klang von Angst. Die zittrige Spannung, mit der eine beherrschte Stimme unterlegt ist. Die wahllosen Wechsel in Betonung und Lautstärke von jemandem, der unverhohlen Angst hat.
Die Bürgermeisterin erscheint auf zwei Bildschirmen.
Die häßliche Kuh. Er beobachtet, wie sie spricht , fragt sich, wie es wohl wäre, ihr die Lippen abzuschneiden, während sie noch am Leben ist. Vielleicht sie zwingen, sie zu essen. Die Fantasie erregt, wie seine Fantasien das immer schon tun.
Er dreht die Lautstärke des einen Fernsehers auf, dann geht er zu der Stereoanlage im Bücherregal, holt eine Kassette aus dem Regal und steckt sie in das Gerät. Er steht in der Mitte des Kellerraums, starrt den Fernseher an, die besorgten Gesichter der
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