Feuermale
Kate wohl besser gleich mit ihr gehen. Sabin würde ihre Karriere durch den Reißwolf jagen, wenn sie seinen Star, seine einzige Zeugin verlieren sollte. Dies war bereits ihre zweite Laufbahn. Wieviele mehr könnte sie haben?
Sie erhob sich langsam und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türpfosten.
»Weißt du, Angie, ich glaube, es gibt einen Grund dafür, daß du uns überhaupt erzählt hast, du hättest diesen Kerl gesehen. Du hättest es nicht sagen brauchen. Du hast nichts von einer Belohnung gewußt. Du hättest lügen können, uns sagen, er wäre schon weg gewesen, als du die Leiche gefunden hast. Wie sollten wir wissen, daß es anders gewesen ist? Wir hätten uns auf dein Wort verlassen müssen, was du gesehen hast und was nicht. Also lassen wir den Scheiß, ja? Ich hab keine Lust, mir von dir auf der Nase rumtanzen zu lassen, obwohl ich auf deiner Seite bin. Ich bin diejenige, die zwischen dir und dem Bezirksstaatsanwalt steht, der deinen Hintern ins Gefängnis werfen und dich als Verdächtige betrachten will.«
Angie schob trotzig das Kinn vor. »Drohen Sie mir nicht.«
»Das ist keine Drohung. Ich bin ehrlich mit dir, weil ich glaube, daß es das ist, was du willst. Du möchtest genausowenig wie ich angelogen und verarscht werden. Das respektiere ich. Wie wär’s, wenn du den Gefallen erwiderst?«
Das Mädchen nagte an einem zerfransten Daumennagel, ihr Haar schwang herunter, um ihr Gesicht zu verdecken, aber Kate merkte, daß sie heftig blinzelte und fühlte eine rasche Woge von Mitleid. Die Stimmungsumschwünge, die dieses Kind auslöste, würden sie todsicher auf Prozac bringen.
»Sie müssen mich für eine echte Nervensäge halten«, flüsterte Angie, ihr üppiger Mund verzog sich so, daß es tatsächlich wie Reue aussah.
»Ja, aber ich betrachte das nicht als fatalen, unverbesserlichen Makel. Und ich weiß, daß du deine Gründe hast.
Aber du hast mehr Grund zur Angst, wenn du nicht versuchst, ihn zu identifizieren«, sagte Kate. »Jetzt bist du die einzige, die weiß, wie er aussieht. Besser, wenn es auch noch ein paar hundert Cops wissen.«
»Was passiert, wenn ich es nicht mache?«
»Keine Belohnung. Abgesehen davon, ich weiß nicht.
Im Augenblick bist du eine potentielle Zeugin. Wenn du beschließt, daß du das nicht bist, dann liegt die Sache nicht mehr in meinen Händen. Der Bezirksstaatsanwalt legt dann vielleicht die harte Gangart ein, oder er läßt dich vielleicht einfach laufen. Egal wie, mich wird er auf jeden Fall abziehen.«
»Sie wären wahrscheinlich froh.«
»Ich hab mir diesen Job nicht ausgesucht, weil ich ihn für einfach oder angenehm halte. Ich möchte dich bei all dem nicht alleine sehen, Angie. Und ich glaube auch nicht, daß du das willst.«
Allein. Gänsehaut jagte über Angies Arme und Beine.
Das Wort war ein ständiger Hohlraum in ihrem Innersten.
Sie erinnerte sich, wie dieses Gefühl gestern nacht in ihr gewachsen war, ihr Bewußtsein in immer kleinere Winkel ihres Verstandes gedrängt hatte. Es war das, was sie auf dieser Welt und darüber hinaus am meisten fürchtete.
Mehr als körperlichen Schmerz. Mehr als den Mörder.
»Wir werden dich alleine lassen. Wie gefällt dir das, Göre? Du kannst für immer allein sein. Bleib einfach da sitzen und denk drüber nach. Vielleicht kommen wir nie zurück.«
Sie zuckte zusammen, als sie sich erinnerte, wie die Tür zugeklickt war, die absolute Dunkelheit des Schrankes, das Gefühl des Alleinseins, das sie zu verschlingen drohte.
Sie spürte jetzt, wie es als schwarzes Gespenst in ihr aufzog. Es schloß sich um ihren Hals wie eine unsichtbare Hand, und sie wollte schreien, wußte aber, sie konnte es nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Ihr Herz begann, schneller, heftiger zu klopfen.
»Komm schon, Kleine«, sagte Kate mit sanfter Stimme und deutete mit dem Kopf Richtung Oscar. »Versuch es doch. Es ist ja nicht so, als hättest du was Besseres zu tun.
Ich werde wegen der Belohnung anrufen.«
Die Geschichte meines Lebens, dachte Angie. Tu, was ich will, oder ich verlasse dich. Tu, was ich will, oder ich tu dir weh. Eine Wahl, wo man eigentlich keine hatte.
»In Ordnung«, murmelte sie und ging zurück zum Stuhl, um ihre Anweisungen zum Zeichnen eines Porträts des Bösen zu geben.
KAPITEL 11
Die Praxen von Dr. Lucas Brandt, zwei anderen Psychotherapeuten und zwei Psychiatern waren in einem
Ziegelbau im Stil des achtzehnten Jahrhunderts mit anmutigen Proportionen untergebracht. Patienten, die hier
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