Feuernacht
solltest noch mal darüber nachdenken. Das ist eine weitreichende Entscheidung, und es gibt noch mehr Dinge, die du bedenken musst. Du solltest die Vor- und Nachteile abwägen, und Nachteile gibt es ziemlich viele.«
»Das habe ich schon gemacht, meine Entscheidung steht fest. Ich möchte, dass du es machst. Ich wäre doch ein Esel, wenn ich das in Jakobs Namen ablehnen würde, ich könnte es mir nie leisten, eine Wiederaufnahme des Falls zu bezahlen.« Grímheiður starrte Dóra mit blauen, kindlichen Augen an. »Jakob ist unschuldig und hat ein Recht auf eine Wiedergutmachung. Ich habe nicht mehr sehr lange zu leben, und wenn ich nicht mehr da bin, gibt es niemanden, der sich um ihn kümmert. Ich werde alles dafür tun, dass wir den Rest unseres Lebens gemeinsam verbringen können.«
Es war nicht das erste Mal, dass jemand behauptete, sein Verwandter sei unschuldig und wie ein treuherziges Kaninchen aus einer Laune des Schicksals heraus fälschlicherweise in die Klauen des Gesetzes geraten. Dóra musste an den harmlosen Kerl denken, den sie im Sogn gesehen hatte, und fand den Vergleich mit dem Kaninchen gar nicht so abwegig.
»Bevor ich mich endgültig entscheide, möchte ich mir die Unterlagen anschauen, die du mitgebracht hast.« Sie beobachtete, wie sich die Frau nach einer altmodischen Aktenmappe aus Plastik reckte, die schon eingerissen war.
»Ich habe nichts weggeworfen, das habe ich einfach nicht über mich gebracht.« Die Frau legte die Mappe auf den Schreibtisch. Sie war so schwer, dass es einen lauten Knall gab. »Du liest das ja mit ganz anderen Augen als ich und findest bestimmt Beweise für das, was für mich völlig offensichtlich ist.« Sie wollte aufstehen, hatte aber den Schal und die Mütze auf ihrem Schoß vergessen. Die Sachen fielen auf den Boden, und die Frau bückte sich umständlich, um sie aufzuheben. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, sagte sie: »Jakob hat das Heim nicht in Brand gesteckt und niemanden umgebracht. Er hat es verdient, zurück nach Hause zu kommen.«
»Hoffentlich«, entgegnete Dóra nur. Was der arme Mann verdient hatte, musste sich erst noch herausstellen.
Dóras Augen waren ganz trocken, weil sie so lange auf den Bildschirm gestarrt hatte. Sie hatte die Aktenmappe noch nicht aufgeschlagen. Dafür würde sie bestimmt einige Zeit brauchen, und außerdem hatte sie Angst, dass die Mappe Fotos oder Beschreibungen von verbrannten Menschen enthielt, worauf sie noch nicht richtig vorbereitet war. Deshalb hatte sie zunächst ein paar E-Mails beantwortet und etwas über das Down-Syndrom gelesen. Vielleicht hatte die Krankheit Begleiterscheinungen wie Aggressivität oder seelische Störungen, was erklären könnte, warum sich Jakob zu der Brandstiftung hatte hinreißen lassen. Trotz langem Suchen fand Dóra nichts, was darauf schließen ließ, erfuhr aber einiges über das Down-Syndrom, das auf einer Chromosomenveränderung beruhte. Es führte diverse Krankheiten wie geistige Behinderung, Herzfehler und verminderte Muskelspannung mit sich. Die Lebenserwartung eines Menschen mit Down-Syndrom betrug ungefähr fünfzig Jahre, wobei es in diesem Bereich erhebliche Fortschritte gab – vor einem halben Jahrhundert hatte die Lebenserwartung noch bei fünfundzwanzig Jahren gelegen. Der Grad der geistigen Behinderung war individuell sehr unterschiedlich, Menschen mit Down-Syndrom hatten einen IQ zwischen 35 und 70 . Zwischen diesen beiden Zahlen lagen Welten, weshalb die allgemeinen Texte nicht viel über Jakob aussagten.
Dóra machte sich mit verschiedenen Gesetzen vertraut, die Jakob betreffen konnten, und stellte schnell fest, dass sich im Hinblick auf Behinderte gesellschaftlich viel verändert hatte. Das Gesetz von 1936 hieß beispielsweise
Gesetz zu Idiotenheimen
und das von 1967
Gesetz zu Idiotenanstalten.
Damals gab es keine andere Möglichkeit als eine Unterbringung im Heim, unabhängig von Alter und Geschlecht des Betroffenen. Es gab keine Tagesbetreuung oder anderweitige Unterstützung, so dass die Eltern behinderter Kinder keine andere Wahl hatten, als ihre Kinder wegzugeben. Dies hatte sich Gott sei Dank geändert, aber man war zweifellos noch weit davon entfernt, allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Dóra fand heraus, dass etwa ein halbes Prozent der isländischen Bevölkerung eine geistige Behinderung hatte, was recht viel war. Spezielle Heime mit Wohngruppen existierten seit 1980 , so dass man bereits einige Erfahrungen gesammelt hatte. Dabei handelte es
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