Feuernacht
anstarren. Er war oft stundenlang in sich wiederholende Bewegungsabläufe versunken, hat sich ohne Unterlass vor- und zurückgewiegt oder seine Finger verknotet.«
»Ist es dir gelungen, das zu überwinden?«
»Ich habe keine Wunder vollbracht, aber es ist mir gelungen, sein Wiederholungsverhalten stark zu reduzieren. Ich habe ihn dazu gebracht, Leuten in die Augen zu schauen und dadurch ihre Anwesenheit wahrzunehmen. Wie gesagt, er hatte noch einen langen Weg vor sich.«
»Tryggvi war doch auch schon in Therapie, bevor du hinzugezogen wurdest. Wie kommt es, dass du etwas geschafft hast, was für andere unmöglich war?«
»Es ist nicht so, dass seine vorherigen Entwicklungstherapeuten nichts für ihn getan hätten. Keineswegs. Er konnte beispielsweise stundenlang bebilderte Sachbücher durchblättern, wobei er den Text nicht gelesen hat. Auch sein Selbstzerstörungstrieb hat sich verringert, als Kleinkind hat er immer mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, so heftig, dass er sich sogar Schädelrisse zugezogen hatte. Es gab also einige Besserungen, wobei es bei Autisten absolut notwendig ist, sehr früh mit dem Verhaltenstraining zu beginnen. Seinen Eltern, besonders seiner Mutter, war sehr daran gelegen, dass er die bestmögliche Therapie erhielt. Sie hat seine Ernährung sehr genau überwacht und Neuerungen auf diesem Gebiet mitverfolgt. In einigen Fällen lassen sich die Auswirkungen von Autismus durch eine spezielle Ernährung mindern. Tryggvi hat beispielsweise kein Gluten und keinen Zucker bekommen, und laut Aussage seiner Mutter hat das seine Symptome verringert, aber das kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn erst nach dieser Ernährungsumstellung kennengelernt. Seine Eltern haben sich auch sehr für Neuerungen im medikamentösen Bereich interessiert. Eigentlich waren sie sehr speziell, Eltern von Autisten konzentrieren sich oft auf einen bestimmten Bereich, Ernährung, Medikamente oder bestimmte Therapieformen, nur wenige sind für alle Bereiche offen. Sie haben ihn sehr geliebt, wobei das für alle Eltern autistischer Kinder gilt, mit denen ich bisher zu tun hatte.«
»Und wie kam es, dass sie die Therapie abgebrochen haben, als sich endlich Erfolge eingestellt haben?«
Ægir zuckte die Achseln. »Das weiß der Himmel. Ich könnte mir am ehesten vorstellen, dass der Frau meine Methoden nicht gefallen haben, die sind alles andere als sanft. Ich musste starke Kontrolle ausüben, um solche Erfolge zu erlangen, und man darf nicht vergessen, dass es sich um eine Person handelt, die mitmenschliche Kontakte gemieden und versucht hat, sie mit allen Mitteln zu umgehen. Ich hatte also keine andere Möglichkeit, als ihn zu zwingen, meine Anwesenheit zu registrieren, und das war laut und schwer auszuhalten. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass Tryggvis Mutter gemerkt hat, dass es die Sache wert war, aber das war offenbar ein großes Missverständnis. Die Beschwerden der anderen Bewohner und Besucher haben sicher auch mit reingespielt … Das war jedenfalls alles sehr schade.«
»Welche Fortschritte hat Tryggvi unter deiner Anleitung denn gemacht?«
»Sehr große, aber man muss wiederum von null ausgehen. Er hat mehr gezeichnet, mit einer deutlicheren Verbindung zu den Dingen, die ihn beschäftigt haben, und er hatte nicht mehr vor allem solche Angst. Ich konnte ihn dazu bringen, mir in die Augen zu schauen und mich und seine Mutter wahrzunehmen.«
»Ist er eigenständig durchs Heim gelaufen? Zum Beispiel auf der Suche nach Gesellschaft oder Essen?«
»Nein, das halte ich für sehr unwahrscheinlich.« Ægir zuckte wieder mit den Schultern. »Es kann natürlich sein, dass er sein Zimmer alleine verlassen hat, aber wohl kaum auf der Suche nach Gesellschaft oder Essen. Das würde mich sehr überraschen.«
»Ich weiß, dass er einmal zu dem Mädchen, das ans Bett gefesselt war, ins Zimmer gegangen ist. Keine Ahnung, aus welchem Grund, aber er ist auf jeden Fall reingegangen und hat sie angeschaut.«
»Da siehst du es, ein Fortschritt.« Ægir massierte seine Stirn und ließ seinen Blick über die schwatzende Menschenmenge schweifen. »Es ist nicht verwunderlich, dass er zu einem der Mädchen gegangen ist, die sich nicht bewegen und ausdrücken konnten. Ein Mensch, der nicht redet, war ihm wesentlich angenehmer, vielleicht hat er die Stille dort gesucht. Ich war ein paarmal mit ihm bei dem Mädchen, das im Wachkoma lag, um ihn an Fremde zu gewöhnen. Sie war der harmloseste Mensch im ganzen Heim. Das andere
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