Feuernacht
Mama. Ich hab’s eben gesehen.«
»Na, komm jetzt. Du wirst noch krank, wenn du länger in dieser Kälte stehst.« Berglind hatte selbst schon angefangen zu zittern und stapfte mit den Füßen.
»Wenn man stirbt, fängt es an zu stinken, Mama.« Er starrte sie an, schaute ihr aber nicht in die Augen, sondern auf ihren offenen Mund. »Aber nicht sofort.«
Berglind vergaß ihre Absicht, vorsichtig die kleine Hand zu nehmen, sondern riss ihren Sohn in ihre Arme und rannte mit ihm ins Haus.
Der Pfarrer konnte nicht verbergen, dass er darüber nachdachte aufzubrechen. Er begann seine Sätze immer mit
also dann
, gab dann aber wieder auf und verpasste jedes Mal die Chance, sich zu verabschieden. Wenn er seinen Drang wegzukommen besser überspielen könnte, hätte Jósteinn es gar nicht bemerkt und seinen Aufbruch nicht hinausgezögert. Jósteinn hatte nicht mehr oft die Gelegenheit, andere zu piesacken, und nutzte sie jedes Mal bis zum Äußersten aus. »Ich bin mir nicht sicher, dass es keinen Gott gibt, aber wenn es ihn gibt, dann verstehe ich mein Schicksal nicht.«
»Mach dir keine Gedanken darüber, Gott liebt dich genauso wie andere Menschen, die niemandem Schaden zugefügt haben. Du musst lernen, das zu schätzen, und darüber nachdenken, was du getan hast. Wenn dir klar wird, wie falsch es war, wirst du es bereuen, und Reue ist der erste Schritt, Gott in dein Leben zu lassen.« Es war viel zu warm im Raum, genau so, wie Jósteinn es am liebsten hatte. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des Pfarrers.
»Du hast mich falsch verstanden. Ich suche nicht nach Gott. Ich habe dich gefragt, wie er auf die Idee kommt, einen Menschen wie mich zu erschaffen, wenn er so fehlerlos ist, wie du meinst.«
»Niemand ist durch und durch schlecht, Jósteinn. Darüber haben wir ja schon gesprochen.« Der Pfarrer warf einen verstohlenen Blick zum Fenster und die dahinter liegende Freiheit. »Aber das muss ich nicht wiederholen, du bist ein kluger Mann, Jósteinn, und ich weiß, dass du alles behältst, was ich dir sage.«
»Du meinst also, dass dein Gott mich erschaffen hat?« Jósteinn starrte in seinen Schoß und auf das verschlissene Hosenbein seiner einst bordeauxroten Cordhose, die jetzt eher rosa war.
»Ja, das meine ich.« Der Pfarrer legte seine Hände auf die Knie und wollte von dem niedrigen Sofa aufstehen. »Also dann …«
»Aber wenn er mich erschaffen hat, und ich so bin, wie ich bin, dann verstehe ich das nicht.« Jósteinn schloss die Augen und lauschte. Er hatte gelesen, dass man einen Sinn schärfen konnte, wenn man einen anderen ausschaltete. Aber er hörte nur denselben gedämpften Klang des Radios der Köchin aus dem Flur, Wasser, das irgendwo im Haus in eine Badewanne eingelassen wurde, und das Keuchen des Pfarrers, der vor Hitze fast erstickte. All dies hatte er schon gehört, als seine Augen noch offen waren. »Entweder ist dein Gott unzuverlässig oder furchtbar gehässig.«
»Lass uns beim nächsten Mal darüber reden, Jósteinn. Ich bin nicht von gestern, mir ist durchaus klar, dass du versuchst, mich zu provozieren. Aber es ist ganz normal, dass du über so was nachdenkst, und das weiß ich zu schätzen. Es zeigt mir, dass du auf dem richtigen Weg bist. Seelenheil schadet niemandem, glaub mir, und wenn du aufrichtig danach strebst, wird eine schwere Last von dir genommen.«
»Oh, ich dachte, du wüsstest, dass ich keine Seele habe.« Jósteinn schlug die Augen wieder auf und hielt sich stattdessen die Nase zu, aber er konnte weder besser hören noch sehen. »Gott hat sie vergessen, oder ich habe sie irgendwann in meinem Leben verloren«, sagte er näselnd. Vielleicht musste er nur länger warten, um eine schärfere Sinneswahrnehmung zu erreichen.
»Unfug, Jósteinn, natürlich hast du eine Seele. Alle haben eine Seele.« Als Jósteinn nicht reagierte, erhellte sich das Gesicht des Pfarrers ein wenig. »Also dann, ich glaube, ich sollte öfter bei dir vorbeischauen, Jósteinn. Dich und deine Seele intensiver begleiten.« Er stand auf.
»Woher weißt du, dass ich eine Seele habe?« Jósteinn ließ seine Nase los und starrte weiter auf seine Knie.
»Weil du deinem Freund Jakob helfen willst, obwohl du ihn angegriffen hast, Jósteinn. Ich habe gehört, dass du dein Geld einsetzen willst, um ihn und seine Mutter zu unterstützen. Das würde kein seelenloser Mensch tun.«
Jósteinn lächelte, ohne aufzuschauen. »Das ist ein großes Missverständnis.«
»Inwiefern?« Der
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