Feuernacht
Mädchen, das bei Bewusstsein war, wollte ich nicht damit belästigen. Wir sind ein paarmal an ihrer Tür stehen geblieben. Das lief alles mit Genehmigung der Heimleiterin, die war sehr hilfsbereit. Tryggvi hat dem Mädchen überhaupt nichts getan, hat sie nur fasziniert angestarrt, wahrscheinlich, weil alles so still war. Und das Mädchen, das du meinst, lag ja im Wachkoma und konnte uns gar nicht bemerken. Ich wusste nicht, dass er auch mal alleine zu ihr ins Zimmer gegangen ist.«
Dóra wollte dieses Missverständnis nicht korrigieren – schließlich war es egal, ob Ægir glaubte, Tryggvi hätte Lísa oder Ragna besucht. »Was wollte er eigentlich mit seinen Bildern ausdrücken? Ich habe ein paar von ihnen in einem Film gesehen und sie überhaupt nicht verstanden. Da war immer eine liegende Person drauf und ein anderes Wesen, das einen großen, dreigeteilten Ring in der Hand hielt. Auf einigen waren auch Flammen zu sehen.«
»Die Bilder waren natürlich nicht alle gleich, aber die beiden Figuren, die du beschreibst, hat er oft gemalt. Die Liegende war bestimmt das Mädchen im Wachkoma, das ihn, wie gesagt, sehr fasziniert hat. Am Anfang der Therapie tauchte sie manchmal auf seinen Bildern auf, dann immer öfter, und am Ende war sie auf jedem Bild, egal welches Motiv er gezeichnet hat. Die andere Figur kam und ging, ich denke, dass sie seine Mutter symbolisiert hat. Der Ring, den sie oft in der Hand hielt, war meiner Meinung nach ein Peace-Zeichen, aber das lässt sich natürlich alles nicht beweisen.«
»Und die Flammen?«
»Die haben ihn offenbar auch gefesselt. Ich vermute allerdings, dass du da vielleicht zu viel reininterpretierst. Die Flammen haben überhaupt nichts mit dem Brand zu tun. Es ist etwas vollkommen anderes, Feuer zu zeichnen, als ein Feuer anzuzünden.«
»Aber genau das hat er vor ein paar Jahren schon mal gemacht und wurde dabei erwischt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass er das Feuer im Heim gelegt hat, aber man stellt sich schon gewisse Fragen …«
»Die Flammen auf seinen Zeichnungen symbolisieren Beklemmung und Angst, so einfach ist das. Wenn er hungrig war, hat er einen Fisch gezeichnet, und wenn er durstig war, ein Waschbecken. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet diese Dinge gewählt hat. Er hat alle Bilder in einem Zug gezeichnet, sozusagen mit einem Strich, und die Symbole schienen darauf aufzubauen. Wenn man sich die Bilder genau anschaut, findet man alle möglichen Dinge, die einem manchmal mehr sagen als das Hauptmotiv.«
»Was bedeutet
08 INN
oder
OBINN
? Das stand auf allen Bildern, und ich frage mich, ob das seine Signatur oder so was war. Kann das sein?«
»Nein, ich habe nie rausgekriegt, was das bedeutet. Er war wütend auf die Buchstaben, also hat er sie mit etwas Schlechtem verbunden. Er hat sie immer zuletzt gezeichnet, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas bedeuten, das wir verstehen können. Vielleicht ist es etwas, das er irgendwann in seinem Leben mal gesehen hat und das sich in sein Bewusstsein eingeprägt hat. Er konnte weder lesen noch schreiben, er muss es also gesehen und nachgemalt haben, genauso, wie er Häuser oder Gegenstände nachgezeichnet hat. Da dieser Text wahrscheinlich spiegelverkehrt war, wie alles, was er gezeichnet hat, ist schwer zu sagen, was er bedeuten soll. Es gibt ja kein Wort, das mit NN anfängt. Seine Eltern konnten auch nichts damit anfangen, aber wer weiß, ob im Laufe der Zeit nicht noch mehr Buchstaben dazugekommen und das Wort deutlicher geworden wäre. Aber dazu ist es ja leider nicht mehr gekommen. Kurz nachdem diese Zeichen auf den Bildern aufgetaucht sind, haben Tryggvis Eltern entschieden, die Therapie zu beenden.«
»Hast du noch ein paar von diesen Bildern?«
»Komisch, dass du danach fragst. Ich hatte bis heute noch ein paar, aber die ehemalige Heimleiterin hat mich angerufen und gefragt, ob sie die haben kann. Da sie immer sehr freundlich war, habe ich sie ihr gegeben, und jetzt habe ich kein einziges mehr. Ich habe sie ihr auf dem Weg hierher vorbeigebracht, deshalb war ich zu spät.«
»Glódís hat also alle Zeichnungen?«
Der Mann nickte. »Ja, jedenfalls alle, die ich hatte.«
27 . KAPITEL
MONTAG ,
18 . JANUAR 2010
Die Werbeplakate am Einkaufszentrum Kringlan gaben ihr Bestes, so zu tun, als sei nichts geschehen, als schwömmen immer noch alle im Geld und als sei immer noch alles für den ursprünglichen Kurs zu haben, der längst Vergangenheit war. Die wenigen Autos, die vor dem
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