Feuernacht
Polizei?«
»Na, wegen Lísa.« Dóra drehte den Computerbildschirm in Matthias’ Richtung. »Was, wenn ein Foto von dem Vergewaltiger bei Facebook ist? Das könnten sie für die Ermittlung verwenden. Es Ragna zeigen, verstehst du? Sie könnten ihr alle Fotos zeigen.«
»Ist doch keine Frage, oder? Du musst es der Polizei sagen.«
»Ja, aber dann erfahre ich vielleicht nie, was dabei rauskommt, und verpasse die Chance, Jakob dadurch zu helfen.«
»Wenn sie den Täter auf diese Weise finden, wäre das doch kein Geheimnis. Das würdest du bestimmt erfahren.«
»Nicht unbedingt. Die Sache ist schließlich schon mal totgeschwiegen worden, und die Polizei ist bestimmt nicht scharf darauf, die Ermittlungen wiederaufzunehmen. Ragna ist ja kein normales Opfer, und es ist fraglich, ob sie Anklage erheben oder überhaupt mit der Polizei reden will.«
»Ruf die Polizei an. Dann besuchst du Ragna einfach danach und fragst sie, was bei dem Gespräch rausgekommen ist. Sie weiß, dass du versuchst, Jakob zu helfen, und würde dir bestimmt nichts verheimlichen.«
Dóra nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Polizei und fragte nach demselben Mann, mit dem sie vorher schon gesprochen hatte. Es verging eine ganze Weile, bis seine Stimme in der Leitung war. Er wirkte nicht sehr erfreut und rechnete wahrscheinlich damit, dass Dóra versuchen würde, ihn über den Fall mit Margeirs Handy auszufragen. Aber Dóra wusste, dass das Zeitverschwendung war, und kam direkt zum Thema. Es war gar nicht so einfach, dem Mann zu erklären, worum es ging: dass ein Behindertenheim irgendwo im Niemandsland eine Partyhochburg gewesen war und dass sich auf einer Facebook-Seite zum Gedenken an jemanden, der dort bei einem Brand ums Leben gekommen war, möglicherweise Fotos von einem Mann befanden, der gelähmte Mädchen missbrauchte. Seine Reaktion war entsprechend: »Weißt du, ich habe gerade alle Hände voll zu tun und kann nichts versprechen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann ist dieses Mädchen ja nicht sehr mobil und läuft uns nicht weg. Ich habe mir das notiert, wir beschäftigen uns damit, wenn es ruhiger ist, diese Woche wohl eher nicht mehr, vielleicht nächste.«
Dóra legte auf und drehte sich zu Matthias. »Komm, wir fahren ins Krankenhaus. Jakob kann nicht warten, bis die Polizei endlich Zeit dafür hat.«
Als Antwort kam nur ein Seufzen vom Sofa.
30 . KAPITEL
DIENSTAG ,
19 . JANUAR 2010
Jósteinn nahm den Mikroprozessor aus dem auseinandergebauten Computer und legte ihn auf ein Plastiktablett. Er schwitzte in seinen Handschuhen und sehnte sich danach, sie abzustreifen und sich so lange zu kratzen, bis sich die oberste Hautschicht in kleinen Fetzen ablösen würde. Dann würde er die Hautfetzen von der Tischplatte in den giftgrünen Mülleimer fegen, der ihn nervte, seit er vor ein paar Jahren Zugang zu diesem Raum bekommen hatte. Er merkte sich schon längst nicht mehr, wie lange er bereits im Sogn war – die Zahl der Jahre war genauso unwichtig wie die Zahl der Sterne am Himmel. Er würde im Sogn bleiben, bis er abkratzte oder ein tatteriger Greis war, den die Behörden nicht mehr für gefährlich hielten. Diese Zukunftsaussichten gefielen ihm zwar nicht, raubten ihm aber auch nicht den Schlaf; hier hatte er seine Computer, die er wesentlich besser verstand als die Menschen, die ihm draußen in der Welt begegnen würden. Es war immer sein schwacher Punkt gewesen, dass er andere Menschen nicht verstand. Der Psychologe, der damals vor Gericht seinen seelischen Zustand beurteilt hatte, hatte gesagt, Jósteinn weise sämtliche Merkmale von Amoralität auf. Er sei nicht in der Lage, aus seinen Fehlern und Erfahrungen zu lernen, und ließe sich fast ausschließlich von antisozialen Neigungen lenken. »Reue«, sagte der Psychologe, »existiert in seiner Vorstellung nicht.« Das war vollkommen richtig: Jósteinn wollte keine seiner Taten rückgängig machen, er hätte sich vielleicht nur besser vor der Polizei verstecken und nicht so schnell erwischen lassen sollen. Dann hätte er noch mehr Taten begehen können und besäße mehr Erinnerungen, an denen er sich erfreuen konnte. Schließlich machte es keinen Unterschied, wie viele Personen er benutzt und missbraucht hatte – er konnte ja nicht länger als lebenslänglich sitzen.
Natürlich wäre es leicht gewesen, den Psychologen zu täuschen. Jósteinn wusste genau, was er tun musste, um normal zu wirken, obwohl ihm Gefühle vollkommen fremd waren – bis auf
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