Feuernacht
dunklere Schatten zu werfen als die anderen Häuser in der Straße. Dora schüttelte das unheimliche Gefühl ab und ging auf die provisorische Eingangstür zu. Die meisten Fenster waren erleuchtet, und im ersten Stock flackerte Licht, wie von einer defekten Glühbirne – oder war es nur ein eingeschalteter Fernseher? Sämtliche Vorhänge waren zugezogen, und hinter den zweigeteilten, altmodischen Küchengardinen sah man die undeutlichen Umrisse einer Person. Dóra konnte nicht erkennen, ob sie ihnen ihr Gesicht zuwandte, war sich aber ziemlich sicher, beobachtet zu werden. Als sie fast beim Haus angelangt waren, verschwand das Schattenbild. Falls es Berglind war, war sie direkt zur Tür gegangen, denn die ging im selben Moment auf, als Matthias klingelte. Das Klingeln war nicht zu hören und schien vom Haus verschluckt worden zu sein.
»Kommt rein, die Klingel ist kaputt, aber ich habe euch schon gesehen.« Die Frau war jung, um die dreißig oder sogar noch jünger. Ihr helles, schulterlanges Haar hing glatt nach unten und wirkte ungewaschen. Die verschlissenen, eng geschnittenen Jeans schlackerten an ihren Beinen, und der weite Fleecepulli verdeckte ihren schlanken Körper. Unter ihren großen, hübschen Augen lagen dunkle Ringe. Genau so hatte sich Dóra eine Frau vorgestellt, die von Geistern verfolgt wurde.
»Guten Tag, ich bin Dóra, und das ist Matthias, von dem ich eben gesprochen habe.« Der Händedruck der Frau war schlaff, und ihre Hand war kalt und feucht. »Vielen Dank, dass wir sofort kommen durften, wir wollen nicht lange stören. Es ist ja schon spät, und morgen ist ein normaler Arbeitstag.«
»Ich bin krankgemeldet und muss nicht früh aufstehen. Mein Mann ist noch auf der Arbeit, sie haben Inventur, und er muss bis in die Nacht bleiben. Ihr stört überhaupt nicht.« Sie schien das Bedürfnis zu haben, noch weitere Punkte zu nennen, um die viele Arbeit ihres Mannes mitten in der Wirtschaftskrise zu entschuldigen. »Seine Firma hat den Eigentümer gewechselt, und es gibt ständig Neuerungen, die viel Arbeit machen. Er wird zwar nicht extra dafür bezahlt, bekommt aber Freizeitausgleich.« Berglind führte sie in den ordentlichen, schlichten Flur. Es gab keinen Garderobenschrank, sondern nur eine Kleiderstange auf Rädern. Die Schuhe waren der Größe nach an der Wand aufgereiht, lediglich in der Mitte des Flurs standen rote Stiefel, die wie ein Feuerwehrauto aussahen. Dóra merkte, dass Matthias unsicher war, wo er seine Schuhe abstellen sollte – an der Haustür oder an der richtigen Stelle zwischen den Schuhen der Hausbewohner. Berglind schien sein Problem ebenfalls zu bemerken. »Achte nicht auf die Schuhe, ich hab tagsüber so wenig zu tun, dass ich genug Zeit habe, alles ordentlich zu halten. Wir sind nur zu dritt, und ich muss mir einiges einfallen lassen, um den Tag rumzukriegen.« Sie betrachtete die Schuhe, die wie in einem Schuhgeschäft nebeneinanderstanden. »Ich weiß, dass das blöd ist, aber ich gehe nicht viel raus, da bleibt einem nichts anderes übrig, als sich irgendwie zu beschäftigen.«
Dóra lächelte. »Da beneide ich dich, du solltest mal meinen Flur sehen.« Dort wimmelte es von Schuhen, die Sóley, Gylfi, Sigga und neuerdings auch Orri mitten im Raum liegenließen. Dóra hatte die Theorie, dass sie sie beim Reingehen abstreiften, ohne ihren Schritt zu verlangsamen, die Schnürsenkel schon auf dem Weg zur Haustür lösten und dann einfach aus den Schuhen schlüpften. Der restliche Boden war von Kinderanoraks bedeckt, die merkwürdigerweise nie an den Kleiderhaken hängenblieben. Beim Verlassen des Hauses mussten Matthias und Dóra wie auf Steinen in einem Bach durch den Flur waten.
Die Frau erwiderte ihr Lächeln. »Setzt euch ins Wohnzimmer, ich gucke mal eben nach Pési, er ist oben und schaut sich einen Film an. Er muss morgen auch nicht früh aufstehen, er ist im Kindergarten beurlaubt, so ähnlich wie ich bei der Arbeit.« Die Ringe unter ihren Augen schienen noch dunkler und größer zu werden, aber das lag wahrscheinlich nur daran, dass sie den hell erleuchteten Flur verlassen hatten.
Matthias und Dóra nahmen auf dem braunen Ecksofa Platz, das vor ein paar Jahren den Möbelmarkt beherrscht hatte. Das Sofa schien sich mit dem Haus solidarisiert zu haben: Das feste Seitenteil war in der Mitte eingesunken und hatte eine andere Farbe angenommen, so als würde es zu einem ganz anderen Sofa gehören. Das Wohnzimmer war genauso ordentlich wie der Flur, und Dóra
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