Feuernacht
Fernbeziehung würde nie funktionieren. Aber es wäre ungerecht, ihm Vorschriften zu machen – es war sein Job, und er musste sich entscheiden.
»Hast du vor dem Treffen noch Zeit, dir das mit mir anzusehen?«, fragte Dóra. Matthias hatte kurz vor Mittag einen Termin mit dem Personalleiter. Es blieb noch reichlich Zeit, aber vielleicht wollte er noch duschen gehen, einen anderen Anzug oder eine linksgestreifte anstatt einer rechtsgestreiften Krawatte anziehen. Das wäre ihm nach seiner jahrelangen Arbeit bei deutschen Banken durchaus zuzutrauen. »Ich meine, musst du vorher noch was machen?«
»Nein, nichts.« Matthias beließ es dabei, und Dóra wusste nicht, ob er keinen Anlass sah, sich besser auf das Treffen vorzubereiten, weil er ohnehin ablehnen würde, oder ob er beschlossen hatte, den Job anzunehmen, obwohl er Dóra gesagt hatte, er sei sich immer noch nicht sicher.
»Dann lass uns schnell in der Kanzlei die Bilder anschauen. Ich spendiere dir auch einen Instantkaffee.«
»Es sind dieselben Buchstaben in umgekehrter Reihenfolge. Wobei man das nicht ganz eindeutig sagen kann, Tryggvi und der kleine Junge sind keine besonderen Schönschreiber.« Dóra legte das Vergrößerungsglas zwischen die beiden Bilder. »Schwer zu sagen, ob das der Buchstabe O oder die Zahl Null ist, genauso wie das I oder die Eins.« Sie untersuchte weiter Pésis Bild. »Und soll das ein B oder eine Acht sein? Ach, ist eigentlich auch egal, es kommt sowieso nichts Sinnvolles dabei raus.« Matthias lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. »Unglaublich, wie detailliert Tryggvis Zeichnung ist. Mir brennen schon die Augen.« Er nahm das Vergrößerungsglas und betrachtete die liegende Figur im Vordergrund. »Glaubst du, dass das Lísa sein soll? Hatte sie sonst noch irgendwelche Behinderungen?«
»Nein, sie lag nur im Wachkoma.« Dóra wusste, warum er das fragte. Obwohl Tryggvi hervorragend zeichnete, gab es Details, die sehr undeutlich waren, vor allem an Lísas Körper, falls es überhaupt Lísa war. Der eine Arm schien an der Schulter ausgerenkt zu sein, und die Beine hatten zwei zusätzliche Gelenke, eins in der Mitte der Oberschenkel und das andere in der Mitte der Unterschenkel. »Vielleicht ist das seine Sicht auf die Vergewaltigung, vielleicht hat der Täter Lísas Körper in eine merkwürdige Position gebracht, um sich an ihr zu vergehen. Tryggvis Wahrnehmung ist ja ganz anders als unsere, die Tat hätte für ihn so aussehen können.«
»Und sie schreit, zumindest ist ihr Mund weit geöffnet«, sagte Matthias angewidert und schaute zu Dóra. »Kann es sein, dass er sie auch zum Oralverkehr gezwungen hat? Auf dem Bild läuft etwas aus ihrem Mund.«
»Ist das bei einer Frau, die nicht bei Bewusstsein ist, überhaupt möglich?« Dóra nahm ihm das Vergrößerungsglas ab und betrachtete den offenen Mund. »Aber du hast recht, es sieht so aus, als würde ihr was aus dem Mundwinkel laufen.«
»So ein Mist, dass Tryggvi nicht ein bisschen deutlicher geworden ist. Meinst du, dass dieser Therapeut das genauer erklären kann?«
»Bestimmt, aber ich glaube, er hat Tryggvis Bilder ziemlich frei interpretiert. Vieles lässt sich nicht so eindeutig zuordnen.« Dóra zeigte auf die stehende Figur. »Warum soll die zum Beispiel ein Peace-Zeichen in der Hand halten, wie Ægir behauptet? Das Ding sieht zwar so ähnlich aus, aber warum sollte Tryggvi ein Peace-Zeichen malen? Man muss schon ein gewisses Verständnis für Geschichte haben, um die Bedeutung des Zeichens zu verstehen.« Sie betrachtete den großen Kreis, den die Person in der Hand hielt. »Oh Mann, und ich dachte, wir wären schon so nah dran.«
»Und wenn das gar nicht Lísa sein soll?«, fragte Matthias. »Sehen wir nicht viel zu sehr das, was wir sehen wollen? Es ist doch gar nicht klar, ob Tryggvi Zeuge der Vergewaltigung war, vielleicht kann man von der Tür aus noch nicht mal Lísas Bett sehen. Bevor wir da noch mehr reininterpretieren, sollten wir das erst mal überprüfen.« Er schaute auf die Uhr und stand auf. »Also dann, ich muss jetzt los.« Nachdem er ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, fragte er, ob sie nicht wissen wolle, wie er sich entschieden hätte, aber sie schüttelte den Kopf.
»Lad mich nach dem Treffen zum Essen ein und erzähl es mir dann. Ich arbeite heute sowieso nicht so lange, ich kann Jósteinn ja erst morgen treffen und vorher auch nicht weiter an meinem Bericht schreiben.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und wünschte ihm
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