Feuernacht
Frau endlich beim Sozialamt an der Strippe hatte, klang ihre Stimme ganz anders, als sie es sich bei einer Frau mit einem so hübschen Namen vorgestellt hatte. Glódís seufzte ununterbrochen und schien sämtliche Sorgen der Welt auf ihren Schultern zu tragen. Nachdem sich Dóra ihr Gejammer über den Stress im Reykjavíker Regionalbüro für Behinderte eine Weile angehört hatte, schaffte sie es schließlich, die Frau dazu zu bringen, sie in einer halben Stunde zu treffen, was jedoch von einer langen Litanei begleitet wurde, sie könne sich aber höchstens eine Viertelstunde freimachen und müsse dann an ihrem unterbesetzten Arbeitsplatz weiterschuften. Als Dóra endlich auflegte, hätte sie am liebsten laut geschrien. Sie begegnete viel zu oft solchen Leuten, die ihr Gehalt für viel zu niedrig hielten und in endlosem Selbstmitleid ertranken. Im Nachhinein betrachtet, hatte sie hinter dem Klagen der Frau jedoch einen Hauch von Angst oder Panik wahrgenommen. Vielleicht ließ sich diese Glódís nur so ausgiebig über die Ungerechtigkeit der Welt aus, weil sie nervös war – für sie war es bestimmt nicht angenehm, an den Fall erinnert zu werden. Vielleicht hatte sie auch etwas zu verbergen. Die jungen Leute, die gestorben waren, unterlagen ihrer Verantwortung, und auch wenn das Heim nicht lange existiert hatte, hatte sie bestimmt eine emotionale Bindung zu den Bewohnern gehabt.
Dóras Handy piepte – eine SMS . Die Nachricht war vollkommen unverständlich und kam schon wieder von
ja.is
. Dóra hoffte, dass nicht irgendein Idiot versehentlich ihre Nummer anstatt der eines Freundes gespeichert hatte. Wenn das der Fall war, dann verpasste der jedenfalls gerade eine wahnsinnig wichtige Frage:
wie verbrannte sich helena als kind?
Dóra war etwas beunruhigt, dass das Wort
brennen
in der SMS vorkam, tat es dann aber als Zufall ab und legte ihr Handy beiseite.
Bella war noch nicht da, obwohl es schon weit nach neun war. Dóra schrieb ihr einen Zettel, sie solle daran denken, Kopierpapier zu bestellen. Die Chance, dass die Sekretärin das tat, war natürlich gering, aber Dóra wollte sich nicht von Bellas Bockigkeit unterkriegen lassen und kritzelte noch dazu:
Kann kein Gehalt zahlen, wenn ich keine Gehaltsabrechnung ausdrucken kann.
Dann schlüpfte sie rasch in ihren Anorak und brach auf. Es schneite inzwischen heftig, und nichts erinnerte mehr an die Windstille des gestrigen Abends. Dóra musste sich beeilen, wenn sie den Wagen einigermaßen freischaufeln und pünktlich zum Termin mit Glódís in Síðumúli sein wollte.
Das Auto war von einer dicken Schneeschicht überzogen, und es dauerte eine Weile, es richtig freizuschaufeln. Dóra war voller Schnee, als sie sich endlich ans Steuer setzte und losfuhr. Unterwegs verursachten schlecht ausgerüstete Fahrzeuge endlose Staus und schlitterten kreuz und quer über die Straße. Dóra nutzte die Zeit, um zu Hause anzurufen und kurz mit Matthias zu reden. Er wollte gerade raus zum Joggen, was er jeden Tag außer sonntags machte – unabhängig vom Wetter. Dóra war das völlig unbegreiflich. Sie würde höchstens laufen, wenn sie von einem blutrünstigen Mörder verfolgt wurde, aber das erzählte sie ihm lieber nicht, denn Sport war ihm sehr wichtig. Jedes Mal, wenn er ihr vorschlug mitzukommen, lächelte sie nur vielsagend, aber das Lächeln verging ihr, als er ihr letzte Weihnachten hochwertige Laufschuhe schenkte. Noch konnte sie das Wetter als Ausrede benutzen, aber wenn der Frühling kam, hatte es keinen Sinn mehr, über das gefährliche Glatteis zu reden – dann musste sie zugeben, dass sie kein Interesse an unnützer körperlicher Verausgabung hatte, oder sich eine andere Ausrede einfallen lassen. Bisher war sie nur auf eine Bienenallergie gekommen, aber der Frühling war ja noch weit, und mit der Zeit kamen vielleicht auch noch überzeugendere Ideen. Zum Glück musste sie nicht ins Fitnessstudio gehen, um ihre Figur zu halten; sie war von Natur aus schlank und groß, so dass sich die überflüssigen Pfunde, die kamen und gingen, recht gut verteilten und nicht zu sehen waren.
Fast wäre sie zu spät gekommen. Als sie den Wagen endlich auf einem halb zugewehten Parkplatz abstellte, musste sie an Matthias’ Abschiedsworte denken, sie solle vorsichtig mit Fragen über die Wohngruppe sein. Behinderung und Krankheit waren sensible Themen, bei denen man Menschen leicht verletzen konnte, selbst wenn es nicht böse gemeint war. Obwohl Dóra zahlreiche Unterlagen über
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