Feuernacht
wenn sie sich nicht richtig bewegen können.«
Dóra verdrehte die Augen. »Was denkst du eigentlich? Meinst du etwa, ich fände das irgendwie komisch?« Sie seufzte gereizt, wurde aber sofort wieder melancholisch. »Die Frau, oder das Mädchen besser gesagt, lag im Wachkoma. Mir kann keiner erzählen, dass sie Spaß an Sex hatte.«
Matthias schwieg. Dann hielt er ihr die Wagentür auf, und Dóra stieg ein, während er auf die Fahrerseite hastete, den Motor anließ und die Heizung voll aufdrehte. Anschließend rieb er seine Hände und pustete hinein. Als sich die Wärme des heißen Gebläses ausbreitete, begannen ihre Füße zu prickeln, was fast noch schlimmer war als die Kälte.
»Weißt du, wer der Vater war?«
»Nein, darüber stand kein Wort in den Unterlagen.«
»Glaubst du, dass der Mann, von dem sie geschwängert wurde, den Brand gelegt hat, um es zu vertuschen?«, fragte Matthias zweifelnd. »Das wäre ja wirklich heftig.«
»Ich habe keine Ahnung; natürlich könnte es Jakob gewesen sein.«
»Der Brandstifter? Oder der Vater des Kindes?« Matthias setzte den Wagen zurück.
»Eins von beidem. Oder beides.« Dóra lehnte sich in ihrem Sitz zurück und starrte so lange im Rückspiegel auf das Behindertenheim, bis es aus ihrem Blickfeld verschwand.
6 . KAPITEL
FREITAG ,
8 . JANUAR 2010
Dóra legte den Stift beiseite und betrachtete stolz ihre Skizze. Damit würde sie zwar keinen Architektenwettbewerb gewinnen, aber es war ihr gelungen, die Bewohner den jeweiligen Appartements zuzuordnen. Nachdenklich fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über das Haus und die Wohnungen und spürte die feinen Vertiefungen, die der Stift im Papier hinterlassen hatte. Im Grunde fast so wie das, was die jungen Leute hinterlassen hatten: Spuren im Gedächtnis derer, die sie liebten, Spuren, die mit der Zeit immer schwächer wurden, bis sie mit dem Tod ganz verschwanden. Dóra zog ihren Finger zurück und riss sich zusammen. Solche schwermütigen Gedanken würden ihr kaum helfen, den Fall zu lösen, und sie hatte schon mehr Zeit als geplant an die Zeichnung vergeudet.
Es bereitete ihr Sorge, dass Jakob in dem Appartement direkt neben der schwangeren Lísa Finnbjörnsdóttir gewohnt hatte. Auch wenn die Appartements alle nah beieinanderlagen, war das ein schlechtes Vorzeichen, zumal nur wenige Männer in Frage kamen, falls ein Mitbewohner der Vater des Kindes war. Fünf der sechs Appartements waren bewohnt, und es gab drei Männer: Jakob, Natan Úlfheiðarson und Tryggvi Einvarðsson. Natan war Epileptiker und bekam starke Medikamente, und Tryggvi war schwer autistisch und verließ sein Zimmer so gut wie nie. Es war unwahrscheinlich, dass einer der beiden mit dem Mädchen Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Aber hoffentlich konnte das jemand zuverlässig bestätigen. Vielleicht war die Vaterschaft bekannt, wurde aber aus Rücksicht auf das tote Mädchen und ihre Angehörigen nicht erwähnt, vielleicht hatte sie auch einen Freund oder war von einem Besucher geschwängert worden, den alle kannten. Es gab unzählige Möglichkeiten, man musste nur den Richtigen finden und hoffen, dass Jakob nichts damit zu tun hatte.
Vor dem Zeichnen der Skizze hatte Dóra die Nachbarn kontaktiert, die den Brand gemeldet hatten. Es handelte sich um ein Ehepaar mit zwei Kindern im Vorschulalter. Dóra musste sich zunächst die Klagen der Frau anhören, wie unmöglich es sei, in so einem Geisterviertel zu wohnen, der Bau des Kindergartens sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden, so dass sie die Kinder in die Stadt bringen müsse. Die Straßen würden nur selten und nachlässig geräumt, und der Müll würde nicht abgeholt. Die Frau zählte noch weitere Dinge auf, bis Dóra endlich die Gelegenheit hatte, ihr Anliegen vorzubringen. Sie war froh, als das Gespräch zu Ende war, und musste zugeben, dass die Zeugenaussagen der Eheleute glaubwürdig waren. Die beiden hatten tatsächlich geschlafen und waren wahrscheinlich von der Explosion aufgewacht, konnten sich aber nicht mehr genau daran erinnern, was sie geweckt hatte. Das einzig Merkwürdige war, dass die Frau sagte, sie seien es gewohnt, bei Krach und Verkehrslärm zu schlafen. Es seien öfter Randalierer nachts im Viertel unterwegs gewesen, besonders am Wochenende, aber glücklicherweise gehöre das der Vergangenheit an. In der Tatnacht hätten sie niemanden gesehen und nichts Ungewöhnliches bemerkt.
Anschließend suchte Dóra den Namen der Heimleiterin heraus: Glódís Tumadóttir. Als sie die
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