Feuernacht
gemeinsam. Noch so ein Behördenfehler.«
»Aha?«
»Irgendwer hatte die geniale Idee, mal zu testen, so eine Einrichtung mit Personen zu bestücken, die völlig unterschiedliche Behinderungen haben. Das sollte total innovativ sein, wobei mir nicht klar ist, warum. Deshalb wurde Jakobs Mutter dazu gedrängt, dass Jakob einzieht. Es fehlte noch ein Mongolider, die werden heutzutage fast alle abgetrieben, deshalb war die Auswahl in seiner Altersgruppe nicht sehr groß.«
»Down-Syndrom«, berichtigte Dóra den Mann.
»Whatever.«
»War das bei dem, der auf der Warteliste vorgezogen wurde, nicht vielleicht genauso? Dass er durch die Art seiner Behinderung irgendwelche Voraussetzungen erfüllt hat?«
Ari gestikulierte wild, als würde er von einer unsichtbaren Fliege geplagt. »Nein, das kann nicht sein, der war Autist, die findet man überall. Ist auf dem Ultraschall nämlich nicht zu sehen, verstehst du?« Er blinzelte Dóra vertraulich zu.
»Aha.« Dóra kämpfte damit, ihre Gesichtszüge im Griff zu behalten. Sie wollte solche Aussagen nicht unterstützen, aber den Mann auch nicht vor den Kopf stoßen, weil er ihr dann womöglich seine Unterlagen nicht mehr geben würde. Sie musste sich einfach so lange beherrschen, bis er ihr den Aktenstapel gab, der auf dem ganzen Kram auf seinem Schreibtisch wackelte. Jetzt war jedenfalls klar, dass Tryggvi, der einzige Autist im Heim, diese Sonderbehandlung genossen hatte.
Plötzlich streckte Ari seinen Arm aus und hätte den Stapel fast umgeworfen. »Nur damit du weißt, was auf dich zukommt.« Er knöpfte seinen Ärmel auf und schob ihn hoch, bis ein blasser, dicker Arm zum Vorschein kam, der bestimmt seit Jahren nicht mehr trainiert worden war. Auf dem Oberarm prangte eine große, hufeisenförmige Narbe. »Das war Jakob, dein neuer Mandant. Ein ganz reizender Mensch.«
Dóra konnte ihren Blick nicht von dem hässlichen, schwabbeligen Fleisch abwenden. »Was ist denn passiert?«
Ari zog den Ärmel wieder herunter. »Er hat mich gebissen, ein ganzes Stück rausgebissen.«
»Einfach so?«
»Ja, was glaubst du denn? Dass ich ihm einen Anlass dazu gegeben habe?« Er knöpfte den Ärmel wieder zu. »Er hat sich einfach über den Tisch zu mir rübergebeugt und mich gebissen.«
»Und worüber hattet ihr gerade gesprochen?«
»Ach, irgendwas über den Fall. Ich weiß nicht mehr genau, aber es war nichts Beleidigendes oder so.« Ari stieß vorsichtig gegen die Aktenordner, so dass der Stapel langsam auf Dóra zuglitt. »Ich habe das noch nicht mal gemeldet, man kann mir also nicht vorwerfen, ich hätte nicht hinter meinem Mandanten gestanden. Natürlich hätte ich den Fall abgeben sollen, aber wir standen kurz vor der Urteilsverkündung, und da hätte ich dumm dagestanden. Aber du kannst ja noch ablehnen, das würde ich jedenfalls empfehlen. Solche Narben stehen dir bestimmt noch weniger als mir. Ich war nicht der Einzige, den er angegriffen hat, er hat seine Mitbewohner und seine Betreuer immer wieder attackiert. Das ist nicht die einzige Narbe, die er auf dem Gewissen hat. Jakob ist gewalttätig, schuldig und basta!«
»Wie kam es eigentlich dazu, dass du als Verteidiger ausgewählt wurdest? Hört sich ja so an, als wäre Jakob nicht unbedingt dein Traummandant gewesen?«
»Nein. Er war der Allerschlimmste, den ich je verteidigt habe.« Er tat so, als würde er überlegen. »Aber wie es dazu gekommen ist … das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich hat die Polizei ihn an mich verwiesen.« Er lächelte und schob die Akten ganz zu ihr herüber. »Ein großer Fehler, den Fall zu übernehmen, aber wie gesagt, du kannst ja noch ablehnen. Der verdammte Arm tut mir immer noch weh.«
Dóra nahm die Akten entgegen. »Danke für die Warnung.« Sie hatte sich für den nächsten Tag mit Jakob im Sogn verabredet und würde auf jeden Fall Matthias mitnehmen. Diesen Jakob wollte sie auf keinen Fall alleine treffen.
8 . KAPITEL
FREITAG ,
8 . JANUAR 2010
Das Treffen mit der Anwältin war schlechter gelaufen, als Glódís erwartet hatte. Sie hatte sich kaum Gedanken darüber gemacht und es für ein Leichtes gehalten, diese Dóra davon abzuhalten, weiter in dem Fall zu recherchieren. Glódís zweifelte nicht an Jakobs Beteiligung an der Katastrophe, hatte aber nicht damit gerechnet, dass die Anwältin so gut vorbereitet war. Ihr Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen. Wie hätte Glódís auch wissen können, dass die Frau Zugang zu sämtlichen Gerichtsunterlagen hatte.
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