Feuernacht
dass er der nächsten Schicht Arbeit hinterließ. In dem Moment klappte die Mappe auf, und ein Zettel fiel heraus. Als er ihn auffing, sah er an der Frauenhandschrift sofort, was er vergessen hatte. Er hatte nicht daran gedacht, die Logopädin anzurufen, die mit dem armen Mädchen in Zimmer sieben reden sollte, wie seine Kollegin Svava von der Abendschicht es ihm aufgetragen hatte. Hastig wählte er die Durchwahl, aber es ging niemand ran. Das versprach nichts Gutes. Es war schon kurz vor vier, und die Therapeuten waren nicht den ganzen Tag im Haus. Verdammt.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als selbst bei dem Mädchen vorbeizuschauen. Soweit er wusste, kam der Arzt erst, wenn er schon weg war, wobei der vermutlich auch nicht mehr ausrichten konnte. Er musste zumindest versuchen, Kontakt mit dem Mädchen aufzunehmen, um der nachfolgenden Schicht mögliche Probleme zu melden. Falls es überhaupt Probleme gab. Auf dem Zettel stand etwas von Herzrasen und Unwohlsein, was auf einen Albtraum zurückzuführen sein könnte. Trotzdem musste man herausfinden, ob man etwas für das Mädchen tun konnte. Patienten, die sich schlecht oder gar nicht artikulieren konnten, waren am schwierigsten, und dieses Mädchen war das schlimmste Beispiel, das er je gesehen hatte, zumal die Station im Grunde nicht richtig auf sie eingestellt war. Er musste sich eingestehen, dass er so wenig Zeit wie möglich bei ihr im Zimmer verbracht hatte. Diese völlige Unbeweglichkeit des Mädchens hatte etwas Unheimliches. Er hoffte für sie, dass er der Einzige war, der sich so anstellte, aber tief im Inneren ahnte er, dass es nicht so war.
Das Zimmer war vom Piepen des Kardiographen erfüllt, der nach dem Vorfall bei der Abendschicht angeschlossen worden war. Die Aufzeichnungen des Tages waren schon für den Arzt, der nach dem Abendessen hereinschauen würde, zusammengestellt worden. Im Augenblick war der Krankenpfleger dankbar, das Messgerät zu haben, denn die fleißige, pausenlos arbeitende Nadel zeigte, dass das Mädchen am Leben war, wofür es ansonsten keine Anzeichen gab. Ihr schlanker Körper lag reglos unter der Bettdecke, und die schwachen Bewegungen ihres Brustkorbs, der die Decke beim Atmen leicht anhob, waren kaum zu erkennen. Das Mädchen starrte an die Decke und schien ihn nicht bemerkt zu haben, obwohl er wusste, dass sie gut hören konnte.
»Hallo, Ragna, wie geht es dir?« Er ging zu ihr und nahm ihre blasse, schmale Hand. In ihrem Handrücken steckte eine Nadel. Vermutlich rührte die Hälfte des Gewichts, das jetzt in seiner Hand ruhte, von dem rosa Plastikteil und dem großen Pflaster her. Es war aus alter Gewohnheit über die Nadel geklebt worden, obwohl keinerlei Gefahr bestand, dass sich das Mädchen daran verletzten könnte. Ihre Hand bewegte sich nur, wenn sie bewegt wurde. Vorsichtig strich er um das braune Pflaster herum, wohl wissend, dass sie das spüren konnte. Schrecklich, ein schreckliches Leben.
Die Augen des Mädchens bewegten sich, sie blinzelte. Lächelnd beugte er sich zu ihr. »Ich muss dir gestehen, dass ich einen Fehler gemacht habe, ich habe vergessen, die Logopädin anzurufen, die heute mit dir reden wollte. Aber ich verspreche dir, dass das nicht noch mal passiert, und wenn sie morgen nicht kommt, fresse ich einen Besen. Direkt morgen früh.« Er musste daran denken, wie unwirklich sie war. Eine lebendige Puppe in Menschengröße, die sich nicht bewegen konnte. Er lächelte wieder, diesmal betrübt, obwohl er sie eigentlich aufmuntern wollte. Das Mädchen konnte sein Lächeln natürlich nicht erwidern und starrte ihn nur mit großen, ängstlichen Augen an. Er wusste nicht genau, warum er fand, dass ihre Augen ängstlich aussahen. Vielleicht erinnerte ihr Blick ihn an ein krankes Kätzchen, das einem völlig ausgeliefert war. Auch dieses Mädchen war so hilflos, dass sie ihr ganzes Leben lang von anderen abhängig sein würde – wenn man ihr keine Nahrung, Wasser und alles andere, was der Mensch brauchte, gab, waren ihre Tage gezählt. Das musste ein furchtbares Gefühl sein, vor allem an einem fremden Ort, wo man niemanden kannte.
»Bekommst du heute Abend Besuch? Von deiner Mutter oder deinem Vater?« Die Eltern konnten natürlich mit ihr kommunizieren, auch wenn auf der Station niemand in der Lage dazu war. Sie blinzelte zweimal, und er wusste, dass das nein bedeutete. Mehr als ja und nein hatte man ihm nicht beigebracht.
»Ich sage der Nachtwache, dass sie dich fragen soll, wie es dir geht und ob du
Weitere Kostenlose Bücher