Feuernacht
hört gar nicht mehr auf.«
»Nimm eine Schmerztablette.« Die Frau verschwand ohne weitere Anteilnahme, aber das war schon mehr, als Glódís sich erhofft hatte. Was, wenn diese Anwältin den Fall wieder aufrollte? Glódís musste dafür sorgen, dass das nicht passierte, sie hatte einfach Angst davor, entlassen zu werden. Die Kürzungen hatten eine Reduzierung der Mitarbeiter zur Folge, und sie wäre bestimmt eine der ersten, die gehen mussten. Und was dann? Jetzt, in der Krise, gab es kaum Jobs, und das Arbeitslosengeld reichte nicht aus. Sie würde schon bald nur noch Sozialhilfe bekommen, wobei sie mit ihrer Rückenverletzung Schadenersatz beantragen konnte. Aber noch gab es andere Möglichkeiten: sich zusammenzureißen und unentbehrlich zu machen, die Gewerkschaft auf ihre Seite zu ziehen oder den Trumpf auszuspielen, den sie sich so lange aufheben würde, bis es gar nicht mehr anders ging. Vielleicht war es bald so weit.
Doch jetzt musste sie eine dringende Entscheidung treffen. Sollte sie ihrem Chef von dem Besuch der Anwältin und einer möglichen Wiederaufnahme des Falls erzählen? Natürlich war es schlimmer, wenn er auf anderem Wege davon erfuhr. Andererseits konnte sie, wenn sie den Mund aufmachte, nicht mehr hoffen, dass die Sache im Sande verlief. Sie drehte den Kopf von einer Schulter zur anderen und schloss die Augen. Mit letzter Kraftanstrengung vertrieb sie die Sorgen aus ihrem Kopf. Doch schon strömten andere unangenehme Gedanken und Erinnerungen auf sie ein.
Sieh mich an. Sieh mich an. Sieh mich an
, echote es so lange in ihrem Kopf, bis sie die Augen weit aufriss.
Glódís wischte sich eine Träne ab. Auf ihrem Handrücken bildete sich ein kleiner, feuchter Fleck, der schnell verschwand, aber einen grauen Mascaraschleier hinterließ – wie ihr Heimleiterjob: Er war von kurzer Dauer gewesen und hatte einen schwarzen Schleier auf ihrer Seele hinterlassen. Glódís richtete sich auf und ging zu ihrem Meeting.
Dem Krankenpfleger war klar, dass er etwas vergessen hatte, aber er wusste nicht mehr, was. Seine Schicht war bald zu Ende, und wie so oft nagte am Ende des Tages dieses Gefühl an ihm. Der Job war stressig, und es war unmöglich, alles zu erledigen. Meistens konnte er nicht lange bei den Patienten bleiben und sich in Ruhe mit ihnen unterhalten, was er gerne gemacht hätte. Das Allernotwendigste hatte Vorrang, und in der letzten Zeit war die Arbeit aus Personalmangel auf noch weniger Leute verteilt worden. Er machte sich keine Sorgen darüber, etwas wirklich Wichtiges vergessen zu haben – die Medikamente waren planmäßig verteilt worden, und die Patienten hatten ihre Termine zur Untersuchung oder zum Röntgen wahrgenommen. Nein, es war etwas anderes.
»Na, wie geht es deinem Magen?« Er beugte sich zu einem alten Mann hinunter, der in einem Rollstuhl an der Wand im Flur kauerte. Offenbar hatte er sich zu viel vorgenommen und kam nicht mehr weiter.
»Wie spät ist es?« Der hellrote Gaumen des Mannes blitzte auf. Das Gebiss lag in seinem Schoß, und jedes Wort wurde von einem feuchten Schmatzen begleitet.
»Kurz vor vier, mein Freund.«
»Bist du der Arzt?« Wieder dieses feuchte Schmatzen, und beim letzten Wort rann ein kleiner Speichelfaden an seinem Kinn herunter.
»Nein, ich bin nicht der Arzt. Ich habe doch eben deinen Blutdruck gemessen, erinnerst du dich nicht?« Er stellte sich hinter den Rollstuhl. »Soll ich dich in den Aufenthaltsraum schieben? Dann kannst du vor dem Essen noch ein bisschen fernsehen oder aus dem Fenster schauen.« Der sehnige Hals des Mannes knackte, als er sich langsam umdrehte. Sein Gesicht war voller Zweifel und Misstrauen, aber das war der junge Pfleger von hochbetagten Patienten längst gewöhnt. Sie stammten aus einer anderen Zeit, als Krankenpfleger noch Schwestern hießen und weiblich waren. Aber diese Einstellung starb langsam aus und hatte ihn nie sonderlich gestört. Eines Tages in ferner Zukunft würde er vielleicht in einer modernen Version dieses Rollstuhls sitzen und mit matten Augen die neuen Zeiten betrachten, die er nicht verstand. Er schob den Mann so weit in den Aufenthaltsraum, dass er sich aussuchen konnte, ob er den Fernseher oder das Leben anschauen wollte, das draußen ohne ihn ablief.
Das Schwesternzimmer war ordentlich, also war sein komisches Gefühl nicht auf irgendwelche unaufgeräumten Geräte zurückzuführen. Er nahm die Patientenmappe vom Tisch, um sie an ihren Platz zu legen. Keiner sollte behaupten können,
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