Feuerprinz
einfach, eine einzige Frau für ein gesamtes Volk zu opfern! Sie verbarg das Zittern ihrer Hände, als sie den Tempel verließ.
Als sie hinaus auf den Tempelplatz trat, wurde Lin augenblicklich von einer Menschenmenge umringt. Die Engilianer hatten Stunden vor dem Tempel gewartet, um zu hören, was die Hohepriesterin der Göttin zu sagen hatte. Lin hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre zurück in den Tempel gelaufen. Stattdessen suchte sie nach einer Lücke zwischen den Menschen, durch die sie schlüpfen konnte. Doch die Engilianer bedrängten sie von allen Seiten. »Tochter von Engil … was hast du im Feuer gesehen? Hat Sala zu dir gesprochen? Was will die Göttin von uns? Was sollen wir tun?«
Die Stimmen klangen aufgebracht und waren erfüllt von hilfloser Angst. Hände rissen an ihrem Gewand, so dass Lin versucht war, die Menschen anzuschreien. Doch stattdessen blieb sie ruhig. »Ich muss zuerst die Heimkehrer begrüßen und mit ihnen sprechen.« Sie entwand sich den fordernden Händen, zwängte sich an ihnen vorbei und lief, so schnell sie konnte, den Palasthügel hinauf. Während sie lief, kam ihr ein Gedanke. Es gab vielleicht etwas, was nicht nur Engil vor dem dunklen Gott beschützen konnte, sondern auch sie selbst.
Im Palast eilten die Diener bereits mit Schüsseln und Krügen zwischen dem Thronsaal und den Vorratsräumen hin und her. Wie es die gute Sitte verlangte, wurden die Heimkehrer zuerst bewirtet, bevor man zu wichtigen Gesprächen überging.
Zwei Diener öffneten Lin die Tür zum Thronsaal.
Alle Köpfe wandten sich ihr zu; die Gespräche verstummten, sobald sie die Halle betrat. Lin fühlte die Anspannung erneut wie einen schweren Stein in ihrem Magen. Anscheinend hatte man auch hier schon ungeduldig ihre Rückkehr erwartet. Mittlerweile war die große Tafel nicht mehr unberührt; sowohl ihre Eltern als auch ihr Gefolge und die jungen Männer, die Elven begleitet hatten, schlugen sich die Bäuche mit Fleisch, Früchten und frisch gebackenem Brot voll.
Elven saß nicht zufällig an Tojars linker Seite – dem Ehrenplatz, den ihr Vater besonderen Günstlingen vorbehielt. Ilana winkte Lin zu sich. Langsam und gemessen, damit niemand ihre Unsicherheit bemerkte, ging sie auf den Tisch zu.
Elvens kleiner Trupp am anderen Ende der Tafel sah mitgenommen aus, dreckig und müde. Die Hemden und Beinkleider der Männer hatten Risse, während Elven selbst überhaupt keine Anzeichen von Erschöpfung erkennen ließ. Hatte er sich als Einziger umgezogen, bevor er den Thronsaal betreten hatte, und ihre Eltern warten lassen? Aber auch seine Hände und sein Gesicht wiesen keine einzige Schramme auf – im Gegensatz zu denen, die ihn begleitet hatten. Lin versuchte, nicht allzu beeindruckt zu starren. Ganz offensichtlich war Elven der Held, den Engil in diesen schweren Tagen brauchte.
Braam war ans Ende der Tafel verbannt worden. Lin konnte sehen, dass er sie keinen Augenblick aus den Augen ließ, während er in einer Hand einen Brotfladen, in der anderen ein Stück Fleisch hielt. Irgendetwas war seltsam an ihm – er wirkte selbstbewusster und nicht so verbittert wie sonst. Seine Blicke empfand sie fast schon als unverschämt.
Lin setzte sich Elven gegenüber an die Seite ihrer Mutter und spürte seinen Blick auf sich ruhen. Sein offensichtliches Interesse an ihr verbarg er auch in Gegenwart ihrer Eltern nicht, und ihreEltern schienen ihm dies nicht übelzunehmen. Lin gab sich einem kurzen Tagtraum hin – sie stellte sich vor, dass es Degan war, der ihr gegenüber saß, und dass es seine Blicke waren, die auf ihr ruhten.
Da erst einmal nichts Interessantes gesprochen wurde, fuhren die Gäste mit dem Essen fort und beachteten sie nicht weiter. Lin war froh darüber. Auch Elven widmete sich seiner Speiseplatte. Lin beobachtete ihn und fand es angenehm, dass er nicht schlang wie die anderen, sondern langsam aß. Musste er nicht ebenso ausgehungert sein wie seine Gefährten? Elven schien in keiner Lebenslage die Beherrschung zu verlieren.
»Ich hörte, ihr habt Niwa gefunden«, sprach sie ihn an.
»Leider sind unsere schlimmsten Befürchtungen wahr geworden«, antwortete Tojar leise und kam Elven damit zuvor. »Der arme Vater des Mädchens ist weinend zusammengebrochen, als er erfuhr, dass ein Schjack seine Tochter verschleppt und zerrissen hat. Wir konnten ihm ihren Körper nicht zurückbringen, damit er durch Salas Feuer in ihr Reich eingeht … es war ja kaum mehr als ein Arm von ihr übrig.« Tojar
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