Feuerprinz
betrachtete die glitzernden Tränen an Jevanas Hals, alswären sie eine gefährliche Waffe. Einen kurzen Augenblick wurde er geblendet und von tiefer Angst gepackt. In seinem Kopf vernahm er deutlich Elvens Stimme.
Irgendwann wird auch euer Blut nicht mehr ausreichen …
Braam verdrängte die Angst, welche die zweite Priesterin in ihm hervorrief. Die Macht der Tränen war groß. Sala war auch seine Göttin gewesen, doch nun diente er einem anderen Herrn. Sogar sein Vater schwieg. Braam straffte die Schultern. Es gab keinen Weg zurück. »Das Blut der Priesterinnen klebt an deinen Händen, wenn du uns nicht sagst, wo Lin ist und wer ihr geholfen hat, aus Engil zu entkommen.«
Jevana starrte trotzig auf ihre staubigen Füße. Sie befand sich offensichtlich in einem inneren Konflikt. Zwei der Priesterinnen riefen schluchzend: »Jevana, bitte! Lass du uns nicht auch im Stich!«
Die zweite Priesterin hob den Kopf und rief: »Lin hat euch nicht vergessen, das dürft ihr nicht glauben.«
Doch die Mädchen schluchzten noch lauter. »Wo ist sie dann? Warum kommt sie nicht, um uns zu helfen?«
Braam spürte, wie Jevana unsicher wurde. Er gab ihr eine Weile Zeit zu überlegen und wandte sich dann zum Gehen. »Also gut«, sagte er an seinen Vater gewandt, der sich bereitmachte, die Priesterinnen Salas in die Tempelstadt zu treiben. »Wie lange wird es dauern, bis der Tempel Muruks vollendet ist? Zwei Mondumläufe … oder drei? Da Lin nicht hier ist, liegt das Schicksal dieser Mädchen nun in der Verantwortung der zweiten Priesterin.«
»Bei Salas Licht … Vater! Was soll ich tun?«, hörte er Jevana flüstern und verkniff sich ein zufriedenes Grinsen. Er war dabei, diese Kraftprobe für sich zu entscheiden.
Langsam ging er weiter, hinter der Horde schluchzender Priesterinnen her. Dann rief Jevana ihm hinterher: »Sag deinem König, dass er den Schuldigen weder unter den Dienerinnen Salas nochden Menschen der Unterstadt findet … Um Engils Mauern ungesehen zu verlassen, braucht es schon ein paar kräftige Schwingen!«
Braam fuhr herum und starrte sie an.
Ein Greif!
Ein Greif hatte ihr geholfen zu entkommen! Das Getuschel der Menschen verwandelte sich in wütende Rufe. »Greifenpack … Der König selbst hat das Übel nach Engil geholt und bestraft nun uns dafür!« Es war fast körperlich zu spüren, wie die Stimmung der Engilianer sich endgültig gegen ihn wandte. Zu allem Überfluss flüsterte sein Vater: »Du bist nicht schlauer als ein Falbrind, Sohn! Hast du denn kein Auge auf die Greife gehabt?«
Braam presste die Lippen zusammen. Wer hätte denn damit gerechnet, dass Lin sich einem Greif an den Hals warf? Er hielt inne und überlegte. Eigentlich kam ihm diese Wendung ganz recht, da sie sein eigenes Versagen milderte. Hatte Elven selbst den Greifen nicht blind vertraut? Voller Verachtung antwortete er seinem Vater: »Wenn ein Greif sie fortgeschleppt hat, dann muss ein Greif sie auch zurückbringen … Sie haben ihren Handel mit Elven gebrochen, und sie werden alles tun, um ihn milde zu stimmen.«
Es war dunkel, aber Lin wusste, dass sie nicht allein war. Das leise Pfeifen und Klappern erinnerten sie daran, dass unten in Dunguns Straßen die Schjacks auf Beute hofften. Lin fror, seit die Nacht hereingebrochen war. Mit dem Rücken an die Brüstungsmauer gelehnt, starrte sie auf den toten Greif. Seit einer Ewigkeit hockte sie hier, die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie saß in der Falle … in einer todbringenden Falle. Die Wände des Turmes waren zu glatt, um daran hinunterzuklettern. Selbst wenn sie eine so gute Kletterin wie Degan gewesen wäre – was sie nicht war –, wäre es unmöglich gewesen, ihrem luftigen Gefängnis zu entfliehen;denn unten lauerten die Schjacks auf Beute.
Unglückselige Lin!
Jayamon hatte recht gehabt – der Turm war ein sicheres Versteck … wenn man Schwingen besaß.
Lin fuhr sich mit dem Handrücken über die tränennassen Augen und sah hinauf in den Himmel, der sich langsam gräulich färbte. Die Nacht war vorüber, bald würde die Sonne den Turm aufheizen und sie selbst mit einem toten Greif hier oben festsitzen – ein kleiner Vorgeschmack darauf, was ihr selbst bevorstand. Sie musste etwas tun, solange sie noch die Kraft dazu besaß.
Mit ungelenken Bewegungen stand sie auf und packte die mittlerweile steifen Arme des Greifs. Sie zog daran, doch Jayamon war einfach zu schwer. Mit zitternden Fingern löste sie die Beinschienen und den übrigen Silberschmuck von seiner
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