Feuerprinz
kalten Haut. Danach ging es etwas leichter, obwohl sie noch immer all ihre Kraft aufwenden musste. Es gelang ihr, Jayamon bis zum Rand des Wehrturmes zu zerren und ihn halb über die Brüstung zu hieven. Lin stöhnte, als sie unter Aufwendung ihrer schwindenden Kräfte den toten Körper Stück für Stück weiterschob, bis er endlich über die Brüstung rutschte.
Schwer atmend beobachtete sie, wie der Greif in die Tiefe fiel. Alle Anmut war dem leblosen Körper durch den Tod genommen worden.
Es tut mir leid!
, entschuldigte sie sich noch einmal stumm, dann nahm sie die Beinschienen und den Schmuck und warf sie ebenfalls in die Tiefe. Lin wollte nichts bei sich haben, was sie an Jayamon und seinen schrecklichen Tod erinnerte.
Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als das aufgeregte Klappern und Pfeifen am Fuß des Turmes lauter wurden, gefolgt von dem knirschenden Geräusch brechender Knochen. Es gab ein Festmahl! Die Schjacks kämpften und rauften um die Beute und teilten den Greif unter sich auf. Lin hielt sich die Ohren zu und dankte Sala dafür, dass es noch zu dunkel war, um etwas zu sehen. Sieschwor sich, nicht einen einzigen Blick in die Tiefe zu werfen, sobald die Sonne aufgegangen war.
Müde kauerte sie sich wieder auf dem Steinboden zusammen. Ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Was würde sie tun, wenn der Durst zu groß würde? Besäße sie den Mut, sich vom Turm zu stürzen; in der Hoffnung, bereits tot zu sein, wenn sie auf dem Boden aufschlug und die Schjacks sich auf sie stürzten? Oder würde sie ausharren bis zum letzten Atemzug und an ihrer eigenen aufgequollenen Zunge ersticken? Würde irgendwann jemand ihre Knochen auf diesem Turm finden und sich fragen, was mit ihr geschehen oder wer sie gewesen war? In einigen Jahresumläufen? Oder in Hunderten von Jahresumläufen? Oder würde man sie einfach vergessen? Ihre Eltern waren tot – wer würde sie also vermissen und nach ihr suchen?
Elven!
Lieber wollte sie ihre Knochen auf diesem Turm wissen als in Elvens Nähe. Lin begann zu schluchzen. »Sala … bitte! Ich muss die Waldfrauen finden, damit sie mir helfen, Engil von Elven zu befreien. So darf es einfach nicht enden.«
Ihren Worten folgte eisiges Schweigen, und Lin wusste einmal mehr, dass die Göttin niemals zu ihr sprechen würde. Der Einzige, der ihren Blick erwiderte, war der volle Mond – groß, kalt und bleich.
Lin zog ihre Knie an und umklammerte sie mit den Armen. Sie war furchtbar müde. Vielleicht hätte Sala ein Einsehen und würde sie einfach nicht mehr aufwachen lassen, wenn sie einschlief.
Doch der Tod war nicht gnädig! Lin erwachte Stunden später mit aufgesprungenen Lippen und geschwollener Zunge, während eine fahle Sonne auf sie herabschien. Benommen blinzelte sie in das milchige Licht. In Dungun wurde es niemals richtig hell – das hatte sie vergessen. Trotzdem dörrte auch diese schwache Sonne ihren Körper aus – langsam und stetig. Lin sammelte einen RestSpucke in ihrem Mund und hatte Mühe zu schlucken. Sogar die Sonne war in Dungun grausam und böse!
Mit Schrecken stellte sie fest, dass ihre Beine und Arme zitterten, als sie sich an der Brüstung hochzog. Ihr Magen fühlte sich an, als wäre er ein riesiges Loch. Sie mied die Stelle, an der sie Jayamons Körper in die Tiefe geworfen hatte, und zog sich zur anderen Seite des Turmes. Dort wagte sie einen Blick auf Dungun.
Es hatte sich nichts verändert – die dunklen Steingebäude und der verlassene Muruktempel waren noch immer da. Aber die Straßen waren teilweise eingefallen und uneben, weil sie niemand mehr benutzte, und Vögel schienen sich auch nicht nach Dungun zu verirren. Die Stille, die über der verlassenen Stadt lag, war die eines uralten Grabes. Sie schloss die Augen. Nun würde Dungun ihr Grab werden.
Wie ein verletztes Tier suchte Lin sich ein Fleckchen Schatten an der Brüstungsmauer, in dem sie sich zusammenrollen konnte, um auf das Ende zu warten. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Eltern – tot! Es gelang ihr noch immer nicht zu trauern, zu tief saß der Schock. Ein anderes – angenehmeres – Bild schob sich vor das ihrer toten Eltern. Das gebräunte Gesicht eines jungen Mannes mit starken weißen Zähnen, etwas zu glatt und zu schön für einen Menschen … Degan! Wo sie früher Trauer und Verlust gespürt hatte, war jetzt tiefes Bedauern. Er hatte sie längst vergessen, während sie an ihm festgehalten hatte. Verschwendung von Lebenszeit! Wäre ihr Körper nicht so ausgetrocknet gewesen, Lin
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